aa) Allgemeines
Rz. 19
Auch hinsichtlich des Pflichtteilsergänzungsanspruchs nehmen Pflicht- und Anstandsschenkungen eine Sonderstellung ein, was ihrer Behandlung in zahlreichen anderen Vorschriften entspricht (§§ 534, 814, 1425 Abs. 2, 1641, vgl. auch §§ 1854 Nr. 8, 2113 Abs. 2, 2205 BGB). Sie werden mit Rücksicht auf die zwischen dem Erblasser und den Beschenkten bestehenden besonderen Beziehungen von der Pflichtteilsergänzung ausgenommen. Im Hinblick auf den weit reichenden Umgehungsschutz, den der Pflichtteilsergänzungsanspruch dem Pflichtteilsberechtigten bietet, ist jedoch die Reichweite der Ausnahmevorschrift des § 2330 BGB immer im Hinblick auf den Schutz des Pflichtteilsberechtigten zu bestimmen. Daher können die zu § 534 BGB entwickelten Kriterien nicht ohne weiteres im Rahmen des § 2330 BGB übernommen werden.
bb) Anstandsschenkungen
Rz. 20
Unter Anstandsschenkungen versteht man Zuwendungen aus besonderem Anlass, wie die üblichen Geschenke zu besonderen Tagen oder Anlässen (Weihnachten, Geburtstag). Eine feste Wertgrenze oder eigenständige Wertfestlegungen gibt es nicht. Für die Einordnung als Anstandsschenkung spielen die örtlichen oder gesellschaftlichen Verhältnisse eine große Rolle. Dabei ist auf die Ansichten und Gepflogenheiten sozial Gleichgestellter abzustellen, insbesondere, ob die Unterlassung des Geschenks zu einer Einbuße an Achtung in diesem Personenkreis führen würde. Umfasst die Schenkung aber die Hälfte des wesentlichen Teils des Schenkervermögens, ist eine Anstandsschenkung nicht mehr gegeben. Eine Anstandspflicht des Erblassers, seine von ihm getrennt lebende Ehefrau, gegen die er Scheidungsklage erhoben hat, für die Zeit nach seinem Tode zu versorgen, besteht nicht. Es gibt viele Fälle, die nicht eindeutig zu lösen sind. Was gilt z.B. für einen anerkannten Künstler, dessen Werke am Kunstmarkt hohe Preise erzielen und der seinen engen Freunden zum Geburtstag regelmäßig eigene, anläßlich zum Geburtstag geschaffene Kunstwerke schenkt? Zieht man etwa das Kriterium des Werks des Geschenkes im Verhältnis zum Gesamtnachlass (siehe nächsten Abschnitt), so ließe sich die Annahme eines Anstandsgeschenks im Einzelfall begründen.
cc) Pflichtschenkungen
Rz. 21
Demgegenüber können Schenkungen aufgrund einer sittlichen Pflicht auch einen erheblichen Wert haben; insbesondere fallen hierunter Unterhaltszahlungen für nahe Verwandte und solche mit der Motivation der zusätzlichen Alterssicherung. U.U. kann auch die Zuwendung eines Grundstücks oder eines Nießbrauchs aus Dankbarkeit für unbezahlte langjährige Dienste im Haushalt oder für unentgeltliche Pflege und Versorgung einer sittlichen Pflicht entsprechen, insbesondere wenn der die Pflegeleistungen Erbringende schwerwiegende persönliche Opfer in Kauf nimmt und deswegen in eine Notlage gerät. Eine Schenkung erfolgt aber nicht schon dann aus sittlicher Pflicht, wenn sie im Rahmen des sittlich noch zu Rechtfertigenden bleibt, sondern nur, wenn sie in der Weise sittlich geboten war, dass ein Unterlassen der Zuwendung dem Erblasser als Verletzung der für ihn bestehenden sittlichen Pflicht zur Last zu legen wäre. Dies ist nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen. Bei der dabei vorzunehmenden Wertung ist abzuwägen, in welchem Maße die Belange von Schenker und Beschenktem es unabweisbar erscheinen lassen, die gesetzlich vorgeschriebene Mindestbeteiligung des Pflichtteilsberechtigten am Nachlass einzuschränken. Denn zu der sittlichen Pflicht kann gerade gehören, den Pflichtteil des Pflichtteilsberechtigten nicht völlig auszuhöhlen. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die veröffentlichten Gerichtsentscheidungen nicht verallgemeinerungsfähig sind. Zudem ist bei älteren Entscheidungen zu berücksichtigen, dass sich die sozialen Verhältnisse, insbesondere hinsichtlich Unterhalt und Altersversorgung, geändert haben. Zudem betonte der BGH im Jahre 1984, dass er seine frühere Rechtsprechung weiterentwickelt hat.
Rz. 22
Kriterien für die nach objektiven Gesichtspunkten vorzu...