Rz. 127

BGH, Urt. v. 29.11.2016 – VI ZR 606/15, juris

Zitat

BGB § 829

1. Ein Schadensersatzanspruch aus § 829 BGB ist nicht schon dann zu gewähren, wenn die Billigkeit es erlaubt, sondern nur dann, wenn die gesamten Umstände des Falles eine Haftung des schuldlosen Schädigers aus Billigkeitsgründen geradezu erfordern.

2. Gemäß § 829 BGB sind insbesondere die Verhältnisse der Beteiligten zu berücksichtigen. Dazu bedarf es stets eines Vergleichs der Vermögenslagen der Beteiligten, wobei für einen Anspruch aus § 829 BGB ein "wirtschaftliches Gefälle" zugunsten des Schädigers vorliegen muss. Die Billigkeit erfordert es nicht, dem Bestehen einer freiwilligen Haftpflichtversicherung ungeachtet des Trennungsprinzips eine anspruchsbegründende Bedeutung zukommen zu lassen.

I. Der Fall

 

Rz. 128

Der Kläger nahm den Beklagten auf Schmerzensgeld aus §§ 829, 253 Abs. 2 BGB in Anspruch.

 

Rz. 129

Der Kläger war seit 1990 Lokführer im Fernverkehr der Deutschen Bahn AG. Er war bereits mehrfach – das vorletzte Mal im August 2010 – in Unfälle verwickelt, bei denen Personen sich das Leben nahmen. Am 24.12.2011 wollte der Kläger als Lokführer eines IC am Hauptbahnhof Hannover aus Gleis 11 abfahren. Der Beklagte saß auf einer Bank an diesem Gleis. Als der Zug anfuhr, sprang er plötzlich unmittelbar vor dem IC auf das Gleisbett. Der Kläger konnte den Zug mit einer Schnellbremsung stoppen, so dass der Beklagte nicht verletzt wurde.

 

Rz. 130

Der Beklagte war seit längerem ernsthaft psychiatrisch erkrankt und drogenabhängig. Im Zeitpunkt des Vorfalls stand er unter Betreuung und befand sich wegen einer akuten Psychose in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit. Damals absolvierte er eine Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann. Über eigenes Vermögen verfügte er nicht. Er war über seine Mutter haftpflichtversichert.

 

Rz. 131

Der Kläger war nach dem Vorfall bis Ende Juli 2012 krankgeschrieben. Er behauptete, aufgrund des Vorfalls eine posttraumatische Belastungsstörung erlitten zu haben. Nachdem in einem Vorprozess seine Klage gegen die Mutter und damalige Betreuerin des Beklagten mangels Verletzung einer Aufsichtspflicht abgewiesen worden war, verlangte er nunmehr von dem Beklagten Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 6.000 EUR aus Billigkeitsgründen nach §§ 829, 253 Abs. 2 BGB.

 

Rz. 132

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klageziel weiter.

II. Die rechtliche Beurteilung

 

Rz. 133

Das Berufungsurteil hielt im Ergebnis revisionsrechtlicher Nachprüfung stand. Da eine Haftung des Beklagten für die von ihm verursachte Verletzung der Gesundheit des Klägers gemäß § 823 Abs. 1 BGB mangels Verantwortlichkeit des Beklagten ausschied (§ 827 BGB) und Ersatz des Schadens nicht von einem aufsichtspflichtigen Dritten verlangt werden konnte, kam allein eine Ersatzpflicht aus Billigkeitsgründen gemäß § 829 BGB in Betracht. Das Berufungsgericht hatte eine solche Billigkeitshaftung im Ergebnis rechtsfehlerfrei verneint.

 

Rz. 134

Die tatrichterliche Entscheidung, ob die Billigkeit nach den Umständen eine Schadloshaltung erfordert, ist mit der Revision nur beschränkt angreifbar. Der Nachprüfung unterliegt aber, ob der Tatrichter wesentliche Gesichtspunkte übersehen oder aus rechtsirrigen Erwägungen in ihrer Bedeutung verkannt hat (vgl. Senatsurt. v. 15.1.1957 – VI ZR 135/56, BGHZ 23, 90, 100).

 

Rz. 135

Dabei muss bedacht werden, dass die verschuldensunabhängige Haftung aus § 829 BGB im deliktischen Haftungssystem eine Ausnahme bildet. Deswegen ist, entsprechend dem Wortlaut der Vorschrift, nach ständiger Rechtsprechung des Senats ein Schadensersatzanspruch aus § 829 BGB nicht schon dann zu gewähren, wenn die Billigkeit es erlaubt, sondern nur dann, wenn die gesamten Umstände des Falles eine Haftung des schuldlosen Schädigers aus Billigkeitsgründen geradezu erfordern (Vereinigte Große Senate, Beschl. v. 16.9.2016 – VGS 1/16, Rn 36, zur Veröffentlichung in BGHZ bestimmt; Senatsurt. v. 24.6.1969 – VI ZR 15/68, NJW 1969, 1762; v. 11.10.1994 – VI ZR 303/93, BGHZ 127, 186, 192). Schon dieser Ausnahmecharakter des § 829 BGB zwingt dazu, die Voraussetzungen, unter denen eine Schadloshaltung des Geschädigten als billig anzusehen ist, hoch anzusetzen (Senatsurt. v. 11.10.1994 – VI ZR 303/93, BGHZ 127, 186, 193).

 

Rz. 136

Gemäß § 829 BGB sind insbesondere die Verhältnisse der Beteiligten zu berücksichtigen, wobei maßgeblicher Zeitpunkt derjenige der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung ist (Senatsurt. v. 24.4.1979 – VI ZR 8/78, VersR 1979, 645). Dazu bedarf es stets eines Vergleichs der Vermögenslagen der Beteiligten, wobei für einen Anspruch aus § 829 BGB ein "wirtschaftliches Gefälle" zugunsten des Schädigers vorliegen muss (Senatsurt. v. 24.4.1979 – VI ZR 8/78, VersR 1979, 645; v. 18.12.1979 – VI ZR 27/78, BGHZ 76, 279, 284; vgl. auch Senatsurt. v. 13.6.1958 – VI ZR 109/57, NJW 1958, 1630, 1631). Als ein für die V...

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