Gundolf Rüge, Dr. iur. Marcus Hartmann
Rz. 83
Zweck des Atomgesetzes ist unter anderem der Schutz von Leben, Gesundheit und Sachgütern vor den Gefahren der Kernenergie und der schädlichen Wirkung ionisierender Strahlen sowie der Ausgleich von durch Kernenergie oder ionisierende Strahlen verursachten Schäden, § 1 Nr. 2 AtomG. Diese Norm umschreibt zugleich den besonderen Schutzzweck der Haftungsbestimmungen des Atomgesetzes, nämlich den Opferschutz. Da sich die damit verbundenen Gefahren länderübergreifend auswirken können, erfordern die Gefahrensicherung und Behebung von Schäden internationale Regelungen. Deshalb ist das Atomhaftungsrecht durch völkerrechtliche Verträge geregelt, nämlich durch
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das Pariser Atomhaftungs-Übereinkommen (nachfolgend PÜ genannt) vom 29.7.1960, dem 16 Staaten, darunter Deutschland und die meisten EU-Staaten angehören; |
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das Wiener Nuklearhaftungs-Übereinkommen (nachfolgend WÜ genannt) vom 21.5.1963, dem 39 Staaten, darunter die Ukraine und Russland, angehören; |
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das Brüsseler Zusatzübereinkommen vom 31.1.1963 zum Pariser Übereinkommen (nachfolgend BZÜ genannt), das keine materiellen Haftungsbestimmungen enthält; |
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das Brüsseler Reaktorschiff-Übereinkommen (nachfolgend BRÜ genannt) vom 25.5.1962, das völkerrechtlich noch nicht in Kraft getreten ist, und |
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das Gemeinsame Protokoll vom 21.9.1988 über die Anwendung des Wiener Übereinkommens und des Pariser Übereinkommens, nachfolgend GP genannt. |
Rz. 84
Das führt zu der Besonderheit, dass die zivilrechtliche Haftung für Kernanlagen ihre Anspruchsgrundlage vorrangig in diesen völkerrechtlichen Übereinkommen findet, insbesondere in dem direkt anwendbaren PÜ, und durch die Haftungsvorschriften der §§ 25–40 des Atomgesetzes ergänzt wird.
Rz. 85
Die folgenden Ausführungen verwenden – neben dem AtomG – jeweils das PÜ als Haftungsgrundlage; sie sollen nur die Grundzüge der Atomhaftung darstellen. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf Spezialliteratur wie etwa die Kommentierung zum Atomgesetz mit Pariser Übereinkommen von Haedrich verwiesen.
Rz. 86
Das Gemeinsame Protokoll vom 21.9.1988 über die Anwendung des WÜ und des PÜ, in Deutschland in Kraft seit 6.3.2001, vereinheitlicht die internationalen Atomhaftungssysteme und erweiterte den Anwendungsbereich der beiden Übereinkommen auf Geschädigte im Vertragsgebiet des jeweils anderen Übereinkommens. Inhaber von Kernanlagen in "Paris-Staaten" haften somit auch für Schäden, die sie in "Wienstaaten" bewirken und umgekehrt. Für die zivilrechtliche Haftung bei nuklearen Schäden gilt dasjenige Übereinkommen, das für den Staat verbindlich ist, in dessen Hoheitsgebiet die Kernanlage gelegen ist und in der ein schädliches nukleares Ereignis eingetreten ist (Artikel 3 Abs. 2 GP; vgl. auch § 25 Abs. 1 S. 1 AtomG). Bei Schäden während Transportvorgängen ist das Übereinkommen des jeweils – nach den insoweit übereinstimmenden Regelungen beider Übereinkommen – haftpflichtigen Inhabers anwendbar (Art. 3 Abs. 3 GP).
Rz. 87
Die Haftung für nukleare Schäden ist als reine Gefährdungshaftung für Schäden ausgestaltet, die aus der Ausübung einer erlaubten, aber mit erheblichen Schadensrisiken behafteten Tätigkeit resultieren. Der Inhaber einer Kernanlage (und nur dieser; sog. rechtliche Kanalisierung, s. Rdn 11) haftet für die infolge eines von einer Anlage ausgehenden nuklearen Ereignisses verursachten Schäden an Leben und Gesundheit von Menschen und an Vermögenswerten. Dritte, wie beispielsweise Zulieferer, Handwerker und Sachverständige, sind hingegen von jeglicher Haftung befreit. Die Haftungsregelungen des Umwelthaftungsgesetzes finden auf Schäden durch nukleare Ereignisse keine Anwendung (§ 18 Abs. 2 UmweltHG).