Gundolf Rüge, Dr. iur. Marcus Hartmann
Rz. 88
Anspruchsgrundlage der Haftung sind die gemäß § 25 Abs. 1 AtomG unmittelbar anwendbaren Art. 3 ff. PÜ. Eine Gegenseitigkeit wird nicht vorausgesetzt. Der Schadensersatzanspruch setzt hiernach voraus, dass ein Schaden
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durch ein nukleares Ereignis verursacht worden ist, das entweder in einer Kernanlage eingetreten ist oder auf Kernmaterialien zurückzuführen ist, die aus der Kernanlage stammen (§ 25 Abs. 1 AtomG i.V.m. Art. 3 (a) PÜ); |
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durch ein nukleares Ereignis außerhalb einer Kernanlage verursacht wurde und auf Kernmaterialien zurückzuführen ist, die von der Anlage aus befördert worden sind ("Transportfälle“, § 25 Abs. 1 AtomG i.V.m. Art. 4 PÜ)." |
Gemäß Art. 3, 4 PÜ in Verbindung mit §§ 25, 26 AtomG muss der Schaden zweifelsfrei auf einem von der jeweiligen Kernanlage ausgehenden nuklearen Ereignis beruhen. Die Beweislast obliegt dem Geschädigten (Art. 3 und 4 PÜ: "wenn bewiesen wird"). Maßgebend für den Verursachungsbegriff und die Anforderungen an die Feststellung des Zurechnungszusammenhangs ist das deutsche Recht.
Rz. 89
Ein nukleares Ereignis (legal definiert in Art. 1 (a) (i) PÜ und Abs. 1 Nr. 1 der Anlage 1 zu § 2 Abs. 4 AtomG) ist – verkürzt ausgedrückt – jedes einen Schaden verursachende Geschehnis oder jede Reihe solcher aufeinander folgender Geschehnisse desselben Ursprungs, das von den radioaktiven Eigenschaften von Kernbrennstoffen, radioaktiven Erzeugnissen oder Abfällen oder von den von einer anderen Strahlenquelle innerhalb einer Kernanlage ausgehenden ionisierenden Strahlungen herrührt oder sich daraus ergibt. Der Begriff "Ereignis" erfasst nicht nur Unfälle, das heißt plötzliche, von außen einwirkende Ereignisse, sondern auch lang andauernde, unmerkliche Prozesse.
Rz. 90
Unter den Begriff der Kernanlage (legal definiert in Art. 1 (a) (ii) PÜ und Abs. 1 Nr. 2 der Anlage 1 zu § 2 Abs. 4 AtomG) fallen Reaktoren sowie Anlagen und Einrichtungen zur Erzeugung, Bearbeitung und Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen und solche, in denen Kernmaterialien (Kernbrennstoffe, radioaktive Erzeugnisse oder Abfälle; vgl. Art. 1 (a) (v) PÜ und Abs. 1 Nr. 5 der Anlage 1 zu § 2 Abs. 4 AtomG) gelagert werden oder sich sonst befinden. Anlagen sind künstlich geschaffene Werke von gewisser Selbstständigkeit und Dauer, vornehmlich als Bau oder Bauteil, mit denen in der Regel ein bestimmter Zweck mit technischen Mitteln verfolgt wird. Der Begriff der Anlage ist mithin nicht auf wirtschaftliche Einheiten begrenzt, die aus Grundstücken, Gebäuden und Einrichtungen bestehen. Ob die Anlage ortsfest oder ortsveränderlich (§ 7 Abs. 1 und 5 AtomG), in Betrieb oder stillgelegt ist, ob sie genehmigt ist oder die erforderliche Genehmigung fehlt, ist haftungsrechtlich ohne Bedeutung.
Rz. 91
Die genauen, hier aus Platzgründen nicht abdruckbaren Begriffsbestimmungen von Kernanlage, Kernbrennstoffe, radioaktive Erzeugnisse oder Abfälle und Kernmaterialien finden sich in Art. 1 (a) (ii)–(v) PÜ und Anl. 1 Abs. 1 Nr. 2–5 zu § 2 Abs. 4 AtomG.
Rz. 92
Haftpflichtiger für Schäden aufgrund nuklearer Ereignisse nach dem PÜ ist ausschließlich der Inhaber der Kernanlage. Das ist derjenige, der von der zuständigen Behörde als Inhaber einer Kernanlage bezeichnet oder angesehen wird (Art. 1 (a) (vi) PÜ; Anl. 1 Abs. 1 Nr. 6 zu § 2 Abs. 4 AtomG). Die Bezeichnung des Inhabers einer genehmigten Kernanlage geschieht ausdrücklich im Genehmigungsbescheid (§ 17 Abs. 6 AtomG). Nach der in Art. 6 (a), (b) und (e) (ii) PÜ geregelten rechtlichen Kanalisierung der Haftung sind – im Anwendungsbereich dieses Übereinkommens – Ansprüche gegen andere Personen als den Anlageninhaber grundsätzlich ausgeschlossen. Gleiches gilt für Ansprüche gegen den Inhaber einer Kernanlage aus anderen Haftungsvorschriften. Der Anlageninhaber muss also für sämtliche nuklearen Schäden einstehen, die auf nuklearen Ereignissen in seiner Anlage beruhen. Der Inhaber der Kernanlage haftet unabhängig vom Ort des Schadenseintritts (§ 25 Abs. 4 AtomG). Mehrere ersatzpflichtige Inhaber von Kernanlagen haften als Gesamtschuldner (§ 33 Abs. 1 AtomG i.V.m. Art. 5 (d) PÜ).
Rz. 93
Die Haftung des Anlageninhabers umfasst auch Schäden, die auf dem Handeln Dritter beruhen, wie beispielsweise Verrichtungsgehilfen, Lagerer oder Beförderer von Kernmaterialien. Der Anlageninhaber haftet auch für Schäden, die durch gestohlene, verlorene, über Bord geworfene oder sonst abhanden gekommene Kernbrennstoffe, radioaktive Erzeugnisse oder Abfälle verursacht worden sind.
Rz. 94
Im Falle der Beförderung von Kernmaterialien haftet:
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der Inhaber der Kernanlage für Schäden infolge eines nuklearen Ereignisses außerhalb seiner Kernanlage oder infolge von Kernmaterialien, die von seiner Anlage aus befördert worden sind (Art. 4 (a) PÜ); |
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statt seiner der Beförderer bei Haftungsübernahme nach § 25 Abs. 2 AtomG, wenn er sich vor Beginn der Beförderung durch schriftlichen Vertrag, der der Genehmigung der für die Beförderung zuständigen Behörde bedarf, zur Haftungsübernahme... |