Dr. iur. Wolfram Viefhues
Rz. 325
Die Norm beschränkt den Unterhaltsanspruch bei grobem Fehlverhalten des Berechtigten. Ob neben dieser eng auszulegenden Ausnahmevorschrift der Rückgriff auf andere Vorschriften wie z.B. § 242 BGB möglich ist, ist strittig.
Als Begehungsformen des § 1611 BGB kommen aktives Tun und Unterlassen in Betracht, soweit der Berechtigte dadurch eine Rechtspflicht zum Handeln verletzt.
Rz. 326
Die Vorschrift ist Ausdruck des Solidaritätsgedankens des Unterhaltsrechts. Das Ausmaß der Verwirkung des Unterhaltsanspruchs ist abhängig von der Schwere des Verstoßes. Die Norm gilt für den gesamten Verwandtenunterhalt, ist also auch beim Elternunterhalt anwendbar.
Rz. 327
Die Verwirkung kann sich grundsätzlich nur auf zukünftige Unterhaltsansprüche auswirken, während zum Zeitpunkt der Verfehlung bereits entstandene Unterhaltsansprüche unberührt bleiben. Dem Unterhaltsberechtigten steht der Unterhaltsanspruch so lange zu, bis er in der vom Gesetz bezeichneten Weise sich gegen den Unterhaltsverpflichteten verfehlt.
Rz. 328
Voraussetzung der Verwirkung des Unterhaltsanspruches ist das Vorliegen einer der gesetzlich geregelten Verwirkungstatbestände:
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der Eintritt der Bedürftigkeit durch sittliches Verschulden, |
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die Verletzung einer eigenen Unterhaltspflicht oder |
▪ |
eine schwere Verfehlung gegen den Unterhaltsverpflichteten. |
Rz. 329
Die Norm bezieht auch einen "nahen Angehörigen" in den Schutzbereich der Norm ein. Abzustellen ist dabei nicht auf den Begriff der Verwandtschaft, sondern es kommt darauf an, wie stark sich der Unterhaltspflichtige mit dem Angehörigen verbunden fühlt.
Rz. 330
Der Unterhaltsberechtigte muss durch sein eigenes Verschulden seine Bedürftigkeit mutwillig herbeigeführt haben. Erforderlich ist ein grobes Verschulden mit einem Verhalten, das sittliche Missbilligung verdient. Der Unterhaltsberechtigte muss anerkannte Verbote der Sittlichkeit in vorwerfbarer Weise außer Acht gelassen haben. Demnach reichen ein einmaliges und nur vorübergehendes Versagen oder reine Nachlässigkeit nicht aus.
Dabei kann auf die Ausführungen zu den entsprechenden Regelungen des § 1579 BGB verwiesen werden.
Rz. 331
Nicht ausreichend sind eine krankheitsbedingte Bedürftigkeit und ein selbstverschuldeter Verlust des Arbeitsplatzes.
Auch die durch Schwangerschaft und Geburt eines Kindes außerhalb einer Ehe eingetretene Bedürftigkeit einer volljährigen Tochter ist kein Fall sittlichen Verschuldens. Folglich verliert ein unterhaltsberechtigtes Kind seinen Ausbildungsunterhaltsanspruch gegenüber seinen Eltern nicht deshalb, weil es infolge einer Schwangerschaft und der anschließenden Kindesbetreuung seine Ausbildung erst mit Verzögerung beginnt. Das gilt jedenfalls insoweit, als die Unterhaltsberechtigte ihre Ausbildung nach Vollendung des dritten Lebensjahres des Kindes – gegebenenfalls unter zusätzlicher Berücksichtigung einer angemessenen Übergangszeit – aufnimmt.
Rz. 332
Eine schwere vorsätzliche Verfehlung gegenüber dem Unterhaltspflichtigen § 1611 Abs. 1 Satz 1 Alt. 3 BGB liegt regelmäßig nur bei einer tiefgreifenden Beeinträchtigung schutzwürdiger wirtschaftlicher Interessen oder persönlicher Belange des Pflichtigen vor. Nicht schon ein ablehnendes und unangemessenes Verhalten zieht eine Herabsetzung oder den Ausschluss des Unterhalts nach § 1611 Abs. 1 BGB nach sich.
Rz. 333
In der Praxis wird der Verwirkungseinwand häufig auf einen Kontaktabbruch des Unterhaltsberechtigten oder eine Verweigerung von Umgangskontakten gestützt.
Rz. 334
Ist dieses Verhalten während der Minderjährigkeit des Kindes erfolgt, scheitert die Verwirkung des Anspruchs auf Kindesunterhalt bereits an § 1611 Abs. 2 BGB. Folglich sind auch Verfehlungen in der Zeit der Minderjährigkeit für den späteren Anspruch des volljährigen Kindes unbeachtlich. Allein entscheidend ist, wann der Verwirkungstatbestand eingetreten ist.
Rz. 335
In der Praxis nicht selten verweigert das volljährige Kind den Kontakt zum Vater, macht aber dennoch Unterhaltsansprüche geltend. Hierzu ist eine umfangreiche, z.T. recht kasuistische Rechtsprechung der Obergerichte vorhanden. Es gibt aber keine Umgangspflicht, deren Verletzung als Grundlage für eine Verwirkung herangezogen werden könnte.
Rz. 336
Jedoch kann beim Kindesunterhalt die Ablehnung jeder persönlichen Kontaktaufnahme zu dem unterhaltspflichtigen Elternteil durch das (volljährige) Kind allein oder auch in Verbindung mit unhöflichen und unangemessenen Äußerungen diesem gegenüber eine Herabsetzung oder den Ausschluss des Unterhalts nach § 1611 Abs. 1 BGB nicht rechtfertigen.
Zitat
OLG Frankfurt v. 3.8.2020 – 8 UF 165/19
Allein die Tatsache, dass ein volljähriges Kind jeglichen Kontakt zum Unterhaltspflichtigen ablehnt, führt nicht zur Verwirkung des Unterhaltsanspruchs.
Die Ablehnung einer Kontaktaufnahme mit dem unterhaltspflichtigen Elternteil stellt jedenfalls dann keine schwere Verfehlung dar, wenn zuvor über einen Zeitraum von zehn Jahren überhaupt keine persön...