Dr. iur. Nikolas Hölscher
Rz. 18
Die rechtspolitische und verfassungsrechtliche Diskussion des Pflichtteilsrechts (siehe § 1 Rdn 3 ff.) fand zunächst einen gewissen Schlusspunkt in der Entscheidung des BVerfG vom 19.4.2005. Darin hat das höchste deutsche Gericht nicht nur die Verfassungsmäßigkeit des Pflichtteilsrechts der Abkömmlinge bestätigt, sondern sogar festgestellt, dass dieses als grundsätzlich unentziehbare und bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung am Nachlass des Erblassers durch die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistet ist (siehe § 1 Rdn 5 ff.).
Rz. 19
Das BVerfG stellte hierzu aber fest, dass die Bestimmungen des § 2333 Nr. 1 und 2 BGB a.F. über die Pflichtteilsentziehung und des § 2345 Abs. 2 i.V.m. § 2339 Abs. 1 Nr. 1 BGB über die Pflichtteilsunwürdigkeit grundsätzlich mit dem Grundgesetz vereinbar sind, und zwar auch im Hinblick auf die erforderliche Normenklarheit und Justiziabilität. Damit verwarf das BVerfG die vielfach hiergegen geübten Bedenken, erkannte jedoch ausdrücklich an, dass es Fallkonstellationen gibt, bei denen es nicht möglich ist, das Prinzip der Testierfreiheit mit dem Grundsatz der unentziehbaren Nachlassteilhabe der Kinder in Übereinstimmung zu bringen, insbesondere wenn es dem Erblasser bei einem besonders schwerwiegenden Fehlverhalten des Kindes schlechthin unzumutbar ist, eine Nachlassteilhabe des Kindes hinnehmen zu müssen. Allerdings müsse ein Fehlverhalten des Kindes, das den Ausschluss des Pflichtteilsrechts rechtfertigt, deutlich über die Störungen des familiären Beziehungsverhältnisses hinausgehen, die üblicherweise vorliegen, wenn der Erblasser seine Kinder von der Erbfolge ausschließt. Für solche Ausnahmefälle habe der Gesetzgeber aber dann Regelungen vorzusehen, die dem Erblasser die Entziehung oder Beschränkung der Nachlassteilhabe des Kindes ermöglichen. Wegen der Vielgestaltigkeit und Unterschiedlichkeit der möglichen Konfliktsituationen könne der Gesetzgeber dabei im Rahmen des ihm zukommenden Gestaltungsspielraums generalisierende und typisierende Regelungen verwenden, müsse jedoch die Grundsätze der Normenklarheit, der Justiziabilität und der Rechtssicherheit beachten.
Rz. 20
Dies spreche gegen eine allgemeine Zerrüttungs- oder Entfremdungsklausel, wie sie in der rechtspolitischen Diskussion immer wieder vorgeschlagen wurde. Auch war nach Ansicht des BVerfG der Gesetzgeber aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht gehalten, den Katalog der in § 2333 BGB genannten Pflichtteilsentziehungsgründe um eine Auffangklausel zu ergänzen, die allgemein auf schwerwiegende Gründe verweist. Dabei begründete das BVerfG die Verfassungsmäßigkeit ausdrücklich mit dem ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal des "schuldhaften Verhaltens des Kindes", das erst Rspr. und Lehre entwickelt hatten, das aber im Regelfall in geeigneter Weise sicherstelle, dass das Fehlverhalten eines Kindes nur in extremen Ausnahmefällen zur Pflichtteilsentziehung berechtige. In dem entschiedenen Fall kam das BVerfG allerdings zu Recht zu dem Ergebnis, dass die Zivilgerichte bei ihrer restriktiven Auslegung der Pflichtteilsentziehungsgründe die Ausstrahlungswirkung des Grundrechts der Testierfreiheit nicht hinreichend beachtet hatten, so dass die Verfassungsbeschwerde des Erben Erfolg hatte. Dort war der an einer schizophrenen Psychose leidende Sohn, der seine Mutter wiederholt schwer tätlich angegriffen und schließlich getötet hatte, im strafrechtlichen Sinne schuldunfähig. Deshalb war nach der bisherigen Auffassung der Zivilgerichte eine Pflichtteilsentziehung nicht möglich. Diese Reduzierung auf das strafrechtliche Verschulden ist aber nach dem BVerfG gerade nicht geeignet, im Einzelfall dem verfassungsrechtlichen Erfordernis eines angemessenen Ausgleichs der unterschiedlichen Grundrechtspositionen "zur Bestimmung der Zumutbarkeitsgrenze" zu gewährleisten. Selbst bei einer strafrechtlichen Schuldunfähigkeit genügt es daher nach dem BVerfG für die Pflichtteilsentziehung, wenn der Pflichtteilsberechtigte den objektiven Unrechtstatbestand "wissentlich und willentlich" verwirklicht. Hierzu ist ein "natürlicher Vorsatz" ausreichend, der auch bei einem psychisch Kranken vorliegen kann.