Dr. iur. Nikolas Hölscher
a) "Nach dem Leben trachten" (§ 2333 Abs. 1 Nr. 1 BGB)
Rz. 32
Mit Ausnahme der Erweiterung des Schutzbereichs in persönlicher Hinsicht (siehe Rdn 26 ff.) bliebt der Entziehungsgrund des § 2333 Abs. 1 Nr. 1 BGB durch die Erbrechtsreform unverändert. Erforderlich ist für das "Nach-dem-Leben-Trachten" die ernsthafte Betätigung des Willens, den Tod des Erblassers, dessen Ehegatten, eingetragenen Lebenspartners (§ 10 Abs. 6 S. 2 LPartG), eines Abkömmlings des Erblassers (einschließlich Adoptivkindes) oder einer dem Erblasser ähnlich nahestehender Person (siehe Rdn 27) herbeizuführen. Dabei genügt ein Mitwirken als Mittäter, Anstifter oder Gehilfe, ja sogar eine noch straflose Vorbereitungshandlung (anders als bei § 2339 Nr. 1 BGB), oder ein Versuch mit untauglichen Mitteln, sogar ein Töten durch Unterlassen, wenn eine strafrechtliche Garantenstellung zum Handeln bestand (§ 13 StGB). Auch ein strafbefreiender Rücktritt vom Versuch (§ 24 StGB) beseitigt den bereits entstandenen Pflichtteilsentziehungsgrund nicht mehr. Bloße mündliche Äußerungen der Tötungsabsicht, wie z.B. entsprechende Androhungen, genügen allerdings für Nr. 1 nicht, während andererseits der Pflichtteilsentziehung nicht entgegensteht, dass der Täter zugleich sich selbst das Leben nehmen wollte.
b) Verbrechen oder vorsätzlich schweres Vergehen (§ 2333 Abs. 1 Nr. 2 BGB)
Rz. 33
In § 2333 Abs. 1 Nr. 2 BGB wurden gleichsam die vormaligen in Nr. 2 und Nr. 3 enthaltenen Pflichtteilsentziehungsgründe zusammengefasst und modifiziert. Früher konnte der Pflichtteil bei einer vorsätzlichen körperlichen Misshandlung (Nr. 2 a.F.) oder in den Fällen entzogen werden, in denen sich der Abkömmling eines Verbrechens oder eines schweren vorsätzlichen Vergehens gegen den Erblasser oder dessen Ehegatten schuldig gemacht hatte (Nr. 3 a.F.). Heute verlangt die Regelung, dass der Pflichtteilsberechtigte sich eines Verbrechens (§ 12 Abs. 1 StGB) oder eines schweren vorsätzlichen Vergehens (§ 12 Abs. 2 StGB) schuldig gemacht hat. Damit konnte der damalige Pflichtteilsentziehungsgrund der vorsätzlichen körperlichen Misshandlung mangels eigenständigen Anwendungsbereichs entfallen. Denn bereits nach dem früheren Recht reichte nicht jede vorsätzliche Körperverletzung für eine Entziehung aus; vielmehr musste sich nach der Rspr. in der Körperverletzung eine schwere "Pietätsverletzung" gegenüber dem Erblasser dokumentieren (siehe Rdn 34 ff.). Nach der amtlichen Gesetzesbegründung bestand daher zu den in § 2333 Nr. 3 BGB a.F. geregelten schweren vorsätzlichen Vergehen kein Unterschied mehr, der die Beibehaltung als selbstständigen Entziehungsgrund gerechtfertigt hätte.
Rz. 34
Damit ist aber zugleich die Frage aufgeworfen, ob auch heute das Vorliegen einer solchen "Pietätsverletzung" erforderlich ist. Zum früheren Recht verlangten die Rspr. und h.M., dass die zur Pflichtteilsentziehung nach § 2333 Nr. 2 BGB a.F. berechtigende Misshandlung mit Rücksicht auf das Gewicht der übrigen Entziehungsgründe eine schwere Pietätsverletzung darstellen musste. Sie hatte sich aufgrund der Umstände des Einzelfalles als nicht mehr hinzunehmende Verletzung der dem Erblasser geschuldeten Achtung zu erweisen und die Pflichtteilsentziehung als angemessene Reaktion zu rechtfertigen. Nach der amtlichen Begründung wollte der Gesetzgeber diese Judikatur beibehalten und ging davon aus, dass mit der Reform keine inhaltliche Veränderung verbunden ist. Im Gesetz wurde dies dadurch zum Ausdruck gebracht, dass nach wie vor ein "schweres" Vergehen verlangt wird. Ob ein solches vorliegt, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalles. Im Hinblick auf die anderen Entziehungsgründe, insbesondere auch im Kontext mit dem damals neu geschaffenen Entziehungsgrund der Nr. 4, wird es sich aber um ein Vergehen mit erheblichem Unwertgehalt handeln müssen.
Rz. 35
Das von der Rspr. entwickelte Merkmal der "schweren Pietätsverletzung" war und ist nicht unumstritten. Nach Ansicht des BGH muss sich die fragliche Misshandlung aufgrund der Umstände des Einzelfalles als nicht mehr hinzunehmende Verletzung der dem Erblasser geschuldeten Achtung darstellen und die Pflichtteilsentziehung als angemessene Reaktion auf diese Misshandlung rechtfertigen. Auch wenn diese eins...