Dr. iur. Nikolas Hölscher
aa) Gesetzgeberisches Anliegen
Rz. 45
§ 2333 Abs. 1 Nr. 4 BGB beinhaltet die deutlichste Veränderung des Rechts der Pflichtteilsentziehung, wurde dadurch doch der frühere Entziehungsgrund des § 2333 Nr. 5 BGB a.F. ersetzt. Dieser ermöglichte die Entziehung des Pflichtteils bei einem "ehrlosen und unsittlichen Lebenswandel". Dieser Entziehungsgrund, der auf den Schutz der Familienehre abstellte, wurde schon seit langem als nicht mehr zeitgemäß und rechtspolitisch fragwürdig angesehen. Denn danach sollte demjenigen der Pflichtteil entzogen werden können, der den guten Namen der Familie untergräbt oder sich durch seinen unsittlichen Lebenswandel von dem Familienband gelöst hatte. Wegen des Wandels, aber auch wegen der Pluralität der Wertvorstellungen und der damit einhergehenden Auflösung der staatlichen und gesellschaftlichen Kontrolle der Familienmoral wurde der Anwendungsbereich von § 2333 Nr. 5 BGB a.F. zunehmend problematischer.
bb) Entziehungsvoraussetzungen
(1) Allgemeines
Rz. 46
Der Gesetzgeber hat auf diese Kritik reagiert. Anstelle dieses Entziehungsgrundes des "ehrlosen und unsittlichen Lebenswandels" berechtigt seit 2010 ein anderes schweres sozialwidriges Fehlverhalten des Pflichtteilsberechtigten zur Pflichtteilsentziehung. Aus Gründen der Rechtsklarheit und der Rechtssicherheit knüpft § 2333 Abs. 1 Nr. 4 BGB dabei an zwei nach Auffassung des Gesetzgebers einfach nachprüfbare Merkmale an: an ein objektives aus der Verantwortungssphäre des Pflichtteilsberechtigten, die Straftat, und an ein subjektives auf Seiten des Erblassers, die Unzumutbarkeit der Nachlassteilhabe. Auf einen wie auch immer gearteten ehrlosen Charakter der Tat oder der Umstände ihrer Begehung kommt es dabei nicht an. Ebenso ist eine Veränderung des Lebenswandels oder Verhaltens des Pflichtteilsberechtigten nach geltendem Recht unerheblich, so dass auch ein einmaliges, lange in der Vergangenheit zurückliegendes Ereignis für die Entziehung ausreichend sein kann und keine Prognoseentscheidungen über die künftige Entwicklung des Pflichtteilsberechtigten mehr notwendig sind.
(2) Straftat des Pflichtteilsberechtigten
Rz. 47
Für die Pflichtteilsentziehung ist zum einen erforderlich, dass der betreffende Pflichtteilsberechtigte wegen einer vorsätzlich begangenen Straftat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr ohne Bewährung rechtskräftig verurteilt wurde oder wird. Auch eine Jugendstrafe kann nach Sinn und Zweck eine Freiheitsstrafe sein, obwohl § 17 Abs. 1 JGG von "Freiheitsentzug" spricht. Das Merkmal soll die Rechtssicherheit für alle Beteiligten erhöhen. Zugleich wird mit der Strafbarkeit auf ein bestimmtes ethisch-moralisches Unwerturteil über das kriminelle Verhalten des Pflichtteilsberechtigten abgestellt, das auf einer entsprechenden Wertentscheidung des Gesetzgebers beruht. Dass die Pflichtteilsentziehung aufgrund einer Straftat möglich ist, ist nichts Neues, wie die vormaligen Entziehungsgründe des § 2333 Nr. 1 bis 3 BGB a.F. zeigen. Jedoch war dies nach früherem Recht nur bei bestimmten Verhalten möglich, weshalb der Gesetzgeber davon sprach, dass "nach heutigem Wertverständnis eine Schieflage bestehe", die beseitigt werden sollte. Dabei wurde bewusst nicht an den Begriff des Verbrechens angeknüpft, um damit vor allem schwere Vergehen aus dem Sexualstrafrecht erfassen zu können. Andererseits rechtfertigt nicht jede Straftat die Entziehung des Pflichtteils. Vielmehr muss es sich um Straftaten handeln, die von erheblichem Gewicht sind und deshalb ein besonders schweres sozialwidriges Fehlverhalten darstellen. Davon ist aber auszugehen, wenn der Betroffene zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr ohne Bewährung rechtskräftig verurteilt ist.
Rz. 48
Auf eine rechtskräftige Verurteilung stellt der Gesetzgeber auch deshalb ab, weil damit eine Objektivierbarkeit und leichtere Nachprüfbarkeit verbunden sind. Zugleich erfolgt dadurch auch eine gewisse Bindung der Zivilgerichte an die strafrechtliche Entscheidung. Auch wenn das Verfahren erst nach dem Erbfall rechtskräftig abgeschlossen ist, kann die Entziehung wirksam angeordnet werden. Dies ergibt sich aus der Verwendung des Wortes "wird" in § 2333 Abs. 1 Nr. 4 BGB (siehe auch Rdn 72). Allerdings führt das Erfordernis der strafrechtlichen Verurteilung dazu, dass der Erblasser oftmals, insbesondere bei Antragsdelikten, gezwungen ist, gegen seine nächsten Angehörigen Strafanzeige zu stellen, um die Pflichtteilsentziehung verwirklichen zu können.
Rz. 49
Praktische Probleme entstehen auch, wenn bei Eintritt des Erbfalls die entsprechende Rechtskraft der strafrechtlichen Verurteilung noch nicht eingetreten ist. Wie diese Fälle zu lösen sind, ist umstritten:
Rz. 50
(1) Die eine Auffassung stellt die strafrechtliche Unschuldsvermutung in den Vordergrund: Bis zur Rechtskraft ge...