Rz. 510
Die von § 138 Abs. 1 BGB ausgesprochene Nichtigkeitsandrohung trifft im Grundsatz sämtliche Rechtsgeschäfte des Privatrechts. Für zwei- und mehrseitige Rechtsgeschäfte ist zwischen der schon aus dem Geschäftsinhalt folgenden Sittenwidrigkeit (Inhaltssittenwidrigkeit) und der Umstandssittenwidrigkeit zu unterscheiden, bei der sich erst aus einer Zusammenfassung von Geschäftsinhalt, Beweggrund und Zweck sowie den zur Zeit des Geschäftsabschlusses bestehenden Umständen aufgrund einer Gesamtwürdigung die Sittenwidrigkeit ergibt. Sie kann sich außer aus dem Inhalt eines Rechtsgeschäfts aus dem Verhalten gegenüber dem anderen Geschäftspartner und aus einer Missachtung schutzwürdiger Belange von Dritten oder der Allgemeinheit ergeben.
Rz. 511
In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob und inwieweit demnach auch Erb- und Pflichtteilsverzichtsverträge und/oder das zugrunde liegende Kausalgeschäft einer gerichtlichen Inhaltskontrolle unterliegen. Eine uneingeschränkte Übertragung der für den Bereich des Ehevertragsrechts entwickelten Wirksamkeits- und Ausübungskontrolle nach Maßgabe der sogenannten Kernbereichslehre auf Erb- und Pflichtteilsverzichtsverträge ist nicht möglich, da die Rechtsinstitute unterschiedliche Schutzwecke und einen andersartigen Rechtscharakter aufweisen. Insbesondere ist die gewisse Versorgungs- und Alimentationsfunktion, die dem Pflichtteilsrecht zukommt, nicht mit der des Unterhaltsrechts vergleichbar, da sie nicht auf die Bedürftigkeit des Berechtigten abstellt. Zudem besitzen Erb- bzw. Pflichtteilsverzicht von der gesetzgeberischen Konzeption her einen aleatorischen Charakter, indem jeder Beteiligte bewusst Unsicherheiten hinsichtlich der persönlichen und wirtschaftlichen Entwicklung in der Person des Erblassers und des Verzichtenden auf sich nimmt, so dass sie wegen der damit verbundenen Risikozuweisung grundsätzlich auch dann Bestand haben soll, wenn später eine signifikante Änderung der Vermögenslage eintritt. Wegen des Wesens als abstraktes Verfügungsgeschäft gilt für die Wirksamkeitskontrolle nach § 138 BGB, dass der vom Gesetzgeber in § 2346 zugelassene Verzicht als solcher wertneutral ist. Eine Unwirksamkeit kann sich gleichwohl aus dem Gesamtcharakter sowie aus Umständen, die eine dem Verzicht zugrunde liegende schuldrechtlichen Vereinbarung anhaften, ergeben.
Rz. 512
Sittenwidrigkeit ist nach allgemeinen Grundsätzen dann gegeben, wenn das Verhalten einer Vertragspartei dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden widerspricht. Hierbei ist – wobei in den Details Uneinigkeit besteht – eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Momente heranzuziehen. Die Prüfung am Maßstab der Sittenwidrigkeit ist damit, insbesondere im Fall der Inhaltskontrolle, ein Instrument, um groben Verstößen entgegenzutreten, dessen Anwendung auf evidente Ausnahmefälle begrenzt bleiben muss. Maßgeblicher Zeitpunkt für diese Beurteilung ist dabei der, in dem das Rechtsgeschäft vorgenommen wird. Spätere Umstände können daher grundsätzlich nicht berücksichtigt werden; sie können allerdings einen Rückschluss auf Umstände erlauben, die für die objektiven oder subjektiven Aspekte von Bedeutung sind, oder im Rahmen des § 141 BGB Bedeutung erlangen.
Nach neuerer Rechtsprechung kann sich die Sittenwidrigkeit eines Erbverzichts und damit dessen Unwirksamkeit aus der gebotenen Gesamtwürdigung mit der dem Verzicht zugrunde liegenden schuldrechtlichen Vereinbarung ergeben. Das ist insbesondere der Fall, wenn die getroffenen Vereinbarungen ein erhebliches Ungleichgewicht zu Lasten des Verzichtenden ausweisen, bspw. das Ausnutzen der geschäftlichen Unerfahrenheit des Verzichtenden.