Rz. 75
Die Wechselbezüglichkeit einer testamentarischen Anordnung in einem Ehegattentestament führt zu einer einzigartigen Besonderheit, wenn einer der beiden Testatoren seine eigene Verfügung einseitig widerruft: Die korrespondierende testamentarische Anordnung des anderen Testatoren wird unwirksam, obwohl er selbst gar nicht widerrufen hat, vgl. den Wortlaut von § 2270 Abs. 1 BGB ("… so hat (…) der Widerruf der einen Verfügung die Unwirksamkeit der anderen zur Folge.").
Diese Besonderheit ist der Grund dafür, dass für den Widerruf einer wechselbezüglichen Verfügung strenge Formalien einzuhalten sind.
Ausblick auf den wechselbezüglichen Erbvertrag: Entsprechendes gilt auch dort gem. § 2298 Abs. 2 S. 1 BGB beim Rücktritt seitens eines Erblasser-Vertragspartners.
Rz. 76
Für den Fall, dass nur ein Ehegatte bzw. Lebenspartner seine Verfügungen, die mit denen des anderen wechselbezüglich sind, widerrufen will, ist zu unterscheiden, ob beide Ehegatten noch leben oder ob einer schon gestorben ist, § 2271 BGB.
(1) Formalien des einseitigen Widerrufs
Rz. 77
Zu Lebzeiten beider Ehegatten kann einer von ihnen einseitig eine wechselbezügliche Verfügung nur in der Form des Rücktritts vom Erbvertrag widerrufen, §§ 2271 Abs. 1 S. 1, 2296 BGB: Die Widerrufserklärung bedarf der notariellen Beurkundung und muss in Urschrift oder Ausfertigung dem anderen Ehegatten zugehen (Praxis: zugestellt werden). Dies gilt auch für das privatschriftliche gemeinschaftliche Testament. Die Übermittlung einer beglaubigten Abschrift reicht nicht aus! Nur die Ausfertigung ersetzt nach § 47 BeurkG die Urschrift.
Es soll gewährleistet sein, dass der andere Ehegatte bzw. Lebenspartner von der Widerrufserklärung Kenntnis erlangt und sein Verhalten darauf einrichten kann.
Rz. 78
Der Widerruf eines gemeinschaftlichen Testaments befindet sich nach einer vom Erklärenden nicht zu verantwortenden unwirksamen Zustellung (einer beglaubigten Abschrift) weiterhin "auf dem Weg" zum Erklärungsempfänger, solange der Zustellungsauftrag (einer Ausfertigung) vom Auftraggeber nicht als abgeschlossen betrachtet wird. Daher kann durch alsbaldige nachfolgende Zustellung einer Ausfertigung der Widerruf noch wirksam erklärt werden.
Rz. 79
Die Widerrufserklärung ist Testament und erfordert deshalb Testierfähigkeit. Es kommt auch Anfechtung dieser Widerrufserklärung nach § 2078 BGB in Betracht.
(2) Geschäftsunfähigkeit des Widerrufsempfängers
Rz. 80
Ist der andere, nicht widerrufende Ehegatte geschäftsunfähig und gehört zum Aufgabenkreis eines für ihn bestellten Betreuers die Vermögenssorge, so kann der Widerruf eines gemeinschaftlichen Testaments auch gegenüber dem Betreuer erklärt werden. Die ganz herrschende Auffassung in Rechtsprechung und Literatur geht davon aus, dass ein Widerruf auch im Falle der Geschäftsunfähigkeit des anderen Ehegatten möglich ist, dann aber gem. § 131 BGB dem gesetzlichen Vertreter des Geschäftsunfähigen zugehen muss, um wirksam zu werden.
Rz. 81
Ist der widerrufende Ehegatte zugleich zum Betreuer des anderen Ehegatten bestellt, dürfte wohl ein Vertretungsausschluss bestehen, da die Empfangnahme der Widerrufserklärung nicht als lediglich rechtlich vorteilhaft angesehen werden kann, so dass für die Empfangnahme des Widerrufs ein Ergänzungsbetreuer nach § 1817 Abs. 5 BGB (bis 31.12.2022: § 1899 Abs. 4 BGB a.F.) bestellt werden muss.
Zum Erfordernis einer Betreuerbestellung auch das AG München:
Zitat
"… Die Betroffene ist geschäfts- und testierunfähig, und damit auch nicht in der Lage, Willenserklärungen zur Kenntnis zu nehmen. Ohne Bestellung eines Betreuers ist ein Widerruf des gemeinschaftlichen Testamentes nicht möglich, da angesichts fehlender Geschäftsfähigkeit die Willenserklärung der Betroffenen gegenüber nicht wirksam erfolgen kann. Die Geschäftsunfähigkeit nimmt nicht nur die Fähigkeit, Erklärungen wirksam abzugeben, sondern auch die Fähigkeit, Erklärungen mit Wirkung für und gegen sich zu empfangen. Ohne Betreuung scheitert der Zugang des Testamentswiderrufs …"
Eine Betreuerbestellung mit dem Wirkungskreis "Postvollmacht" reicht allerdings nicht aus für die Entgegennahme des Widerrufs.
Rz. 82
Das LG Leipzig – Beschl. v. 1.10.2009 – lässt es genügen, wenn der Widerruf dem Generalbevollmächtigten des anderen Ehegatten zugeht:
Zitat
"Der notariell beurkundete Widerruf wechselbezüglicher Verfügungen in einem gemeinschaftlichen Testament gegenüber einem geschäftsunfähigen Ehepartner wird durch die Aushändigung der Widerrufserklärung an einen von diesem mit umfassender und uneingeschränkter General- bzw. Vorsorgevollmacht bestellten rechtsgeschäftlichen Vertreter wirksam. Die Bestellung eines Betreuers als gesetzlicher Vertreter ist nicht erforderlich. Das Fehlen der Bezeichnung als Vorsorgevollmacht ist unerheblich, wenn es sich sachlich um eine umfassende Generalvollmacht oder eine die Entgegennahme einer solchen Widerrufserklärung erfassende Einzel- oder Spezialvollmacht handelt."
Allerding...