Rz. 44
§ 2270 Abs. 2 BGB enthält eine Auslegungsregel, die allerdings nur dann Anwendung findet, wenn die Auslegung keine Klarheit über den Verknüpfungswillen gebracht hat. Im Rahmen der Auslegung des gemeinschaftlichen Testaments muss der gesamte Inhalt der Erklärungen einschließlich aller Nebenumstände, auch solcher, die außerhalb der Testamentsurkunde liegen, als Ganzes gewürdigt werden. Bei der Ermittlung des Erblasserwillens muss auch die Lebenserfahrung berücksichtigt werden, dass beim Fehlen verwandtschaftlicher Beziehungen zwischen dem zuerst verstorbenen Ehegatten und dem eingesetzten Schlusserben dem Überlebenden das Recht zustehen soll, die Erbfolge anderweitig festzulegen.
Rz. 45
Die Beweislast für die Wechselbezüglichkeit hat derjenige zu tragen, der daraus Rechte herleiten will. Unter folgenden Voraussetzungen kommt ihm jedoch die widerlegbare Vermutung des § 2270 Abs. 2 BGB zugute:
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Nach der nach allgemeinen Grundsätzen vorgenommenen Testamentsauslegung bleiben Zweifel, ob es sich um eine wechselbezügliche oder eine unabhängige Verfügung handelt. |
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Es sind Anordnungen, mit denen sich die Erblasser gegenseitig als Erben oder Vermächtnisnehmer eingesetzt haben oder ein Erblasser den anderen Erblasser und dieser wiederum einen Dritten bedacht hat, der mit dem zuerst verstorbenen Erblasser verwandt ist oder ihm sonst nahesteht. |
Beispiel
Die Eheleute M und F setzen sich in einem gemeinschaftlichen Testament gegenseitig zu Alleinerben ein; der Überlebende setzt den einzigen gemeinschaftlichen Sohn S zu seinem Alleinerben ein.
Dieses Testament enthält vier Verfügungen:
1. die Alleinerbeinsetzung der F durch M,
2. die Alleinerbeinsetzung des M durch F,
3. die Alleinerbeinsetzung des Sohnes S durch M als Überlebenden,
4. die Alleinerbeinsetzung des Sohnes S durch F als Überlebende.
Nach der Vermutung des § 2270 Abs. 2 BGB stehen die gegenseitige Alleinerbeinsetzung der Ehegatten einerseits und die Alleinerbeinsetzung des S durch den Überlebenden andererseits in wechselbezüglicher Abhängigkeit zueinander. Ist M testierunfähig gewesen, so sind auf jeden Fall seine Verfügungen nichtig. Nach § 2270 Abs. 1 BGB werden jedoch auch die Verfügungen der F, obwohl sie testierfähig war, unwirksam.
Rz. 46
Mit dem Tod des erststerbenden Ehegatten tritt für den Überlebenden eine Bindung an seine wechselbezüglichen Verfügungen, die auf seinen Tod gelten sollen, ein, § 2271 Abs. 2 BGB.
Rz. 47
Außer den durch die gesetzliche Vermutung erfassten Fällen können auch anders gelagerte Verfügungen, sofern es sich um Erbeinsetzung, Vermächtnis- oder Auflagenanordnung handelt, wechselbezüglich sein, wenn sich ein entsprechender Erblasserwille ermitteln lässt.
Zum Näheverhältnis vgl. OLG Koblenz:
Zitat
"Eine durch ein gemeinschaftliches Testament bedachte Person kann aufgrund der Auslegungsregel des § 2270 Abs. 2 BGB nur dann als dem Erblasser nahe stehende Person angesehen werden, wenn ein solches "Näheverhältnis" besteht, dass dieses einem Verwandtschaftsverhältnis gleichzusetzen ist und mindestens dem üblichen Verhältnis zu Verwandten entspricht. Als nahe stehende Personen sind diejenigen zu verstehen, zu denen der betreffende Ehegatte enge persönliche Beziehungen und innere Bindungen gehabt hat. Als solche Personen können Adoptiv-, Stief- und Pflegekinder, verschwägerte Personen, enge Freunde und langjährige Angestellte in Betracht kommen, wenn eine häusliche Gemeinschaft bestanden hat."
Rz. 48
Die Wechselbezüglichkeit der Schlusserbeneinsetzung lässt nicht von vornherein den Schluss auf die Wechselbezüglichkeit und damit die Bindung des längstlebenden Ehegatten an die Einsetzung auch eines Ersatzschlusserben zu, wenn beide nur mit diesem Längstlebenden verwandt sind. Aus dem Gesamtzusammenhang des Testaments, seinem Wortlaut und seiner Systematik unter Einbezug von Feststellungen über gute Beziehungen des Ersatzerben zu dem erstverstorbenen Ehegatten – auch wenn diese noch nicht ein hinreichendes Näheverhältnis i.S.v. § 2270 Abs. 2 BGB ergeben – kann sich jedoch im Wege der individuellen Auslegung des Testaments als tatsächlicher Erblasserwille die Wechselbezüglichkeit der Ersatzschlusserbeneinsetzung entnehmen lassen.
Nahe stehend i.S.v. § 2270 Abs. 2 BGB kann auch eine juristische Person sein.
Rz. 49
Wechselbezüglichkeit mit eintretender Bindung für den Überlebenden ist die Ausnahme vom Verbot der Bindung von Todes wegen nach § 2302 BGB:
Hinweis
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Wechselbezüglich-testamentarische Bindung = Ausnahme vom Bindungsverbot des § 2302 BGB |
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Unterausnahme: Wechselbezüglichkeit ist nur bei vier Anordnungen möglich (§ 2270 Abs. 3 BGB, "Wechselbezugsfähigkeit"):
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Erbeinsetzung |
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Vermächtnis |
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Auflage |
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erbrechtliche Rechtswahl |
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