1. Anfechtungsproblematik: Überschuldung der Erbschaft
Rz. 540
Zwei Entscheidungen zur Anfechtung der Erbschaftsannahme wegen Nachlassüberschuldung (Eigenschaftsirrtumsanfechtung, § 119 Abs. 2 BGB) – BayObLG und OLG Düsseldorf:
a) Fallkonstellationen
Rz. 541
Im Fall des BayObLG erfolgte knapp zwei Jahre nach dem Erbfall und nach Annahme der Erbschaft eine Nachveranlagung des Erblassers zur Einkommensteuer (Steuerschuld ca. 340.000 DM), die zu einer erheblichen Schmälerung des Nachlasses führte, ohne dass letztlich eine Überschuldung des Nachlasses eingetreten wäre. Ihre Erbschaftsannahme hat die Alleinerbin daraufhin wegen Irrtums angefochten. Die Entscheidung des BayObLG ist, obwohl die Anfechtung nicht als wirksam angesehen wurde, deshalb lesenswert, weil grundsätzliche Ausführungen zur Anfechtbarkeit einer Erbschaftsannahme gemacht werden. Das Gericht ließ die Anfechtung nicht durchgreifen, weil eine Überschuldung des Nachlasses durch die nachträglich bekannt gewordene Einkommensteuerschuld nicht eingetreten war. Wäre eine Überschuldung eingetreten, so hätte das Gericht die Anfechtung wohl als wirksam anerkannt.
Rz. 542
Im Fall des OLG Düsseldorf bestand der wesentliche Teil des Nachlasses in einem einzelkaufmännischen Unternehmen. Im Zeitpunkt der Erbschaftsannahme lagen Bilanzen vor, aufgrund derer von einem positiven Nachlasssaldo ausgegangen werden konnte. Etwa eineinhalb Jahre nach dem Erbfall wurde entdeckt, dass die Bilanzen fehlerhaft waren, weil vor dem Erbfall über Jahre hinweg nicht bestehende Forderungen in den Büchern geführt und vorhandene Verbindlichkeiten (vom Erblasser) nicht erfasst worden waren. Die Korrektur der Bilanzen führte zur Überschuldung des Nachlasses und zur Eröffnung des Nachlasskonkurses. Die Alleinerbin erklärte daraufhin die Anfechtung der Erbschaftsannahme wegen Irrtums über eine verkehrswesentliche Eigenschaft (§ 119 Abs. 2 BGB). Das OLG Düsseldorf hat die Anfechtung als wirksam angesehen.
b) Anfechtung der Annahme der Erbschaft
Rz. 543
Das Gesetz geht in §§ 1954–1957 BGB von der Möglichkeit einer Anfechtung der Annahme einer Erbschaft aus, enthält jedoch dort keine besonderen Bestimmungen zu den Gründen, die eine solche Anfechtung rechtfertigen können. Daraus folgt, dass insoweit die allgemeinen Bestimmungen der §§ 119 ff. BGB maßgebend sind.
c) Anfechtungsgründe
Rz. 544
Als Anfechtungsgründe im Sinne eines Motivirrtums (Eigenschaftsirrtum) nach § 119 Abs. 2 BGB kommen die Überschuldung des Nachlasses, mangelnde Kenntnis einzelner wichtiger Nachlassverbindlichkeiten, aber auch die fehlerhafte Einschätzung des Wertes einzelner Nachlassgegenstände in Betracht. Dabei ist als "Sache" im Sinne dieser Vorschrift bei der Anfechtung gem. §§ 1954, 1956 BGB die Erbschaft anzusehen, d.h. der dem Erben angefallene Nachlass oder der betreffende Nachlassteil bei einem Miterben. Das bedeutet, dass die Überschuldung der Erbschaft eine verkehrswesentliche Eigenschaft gem. § 119 Abs. 2 BGB darstellen kann, die zur Anfechtung der Annahme der Erbschaft berechtigen kann.
Rz. 545
Allerdings muss die Überschuldung auch im Zeitpunkt der Annahme der Erbschaft vorliegen. Ein Irrtum über das Bestehen von Verbindlichkeiten, bspw. von Einkommensteuerschulden für zurückliegende Veranlagungszeiträume, kann grundsätzlich die Anfechtung der Annahme begründen. Allerdings ist eine einzelne Verbindlichkeit lediglich ein Rechnungsfaktor für die Bewertung des ganzen Nachlasses und damit der Überschuldung.
Rz. 546
Zu den Eigenschaften einer Sache rechnet zwar nicht der Wert der Sache selbst, aber doch alle wertbildenden Merkmale, die die Sache unmittelbar kennzeichnen. Geht es um die Eigenschaften einer Sachgesamtheit wie eines Nachlasses, so stellt deren Zusammensetzung ein solches wertbildendes Merkmal dar. Deshalb gehört es zu den wertbildenden Faktoren der Erbschaft, mit welchen Verbindlichkeiten der Nachlass belastet ist. Ein Irrtum hierüber kann jedoch die Anfechtung nur begründen, wenn sich das Bestehen einer solchen Verbindlichkeit als verkehrswesentliches Merkmal darstellt und der Irrtum hierüber für die Erklärung der Annahme ursächlich war. Insoweit ist für die maßgebliche Beurteilung auf die Erbschaft als Ganze abzustellen. Deshalb können nur wertbildende Faktoren von besonderem Gewicht als im Verkehr wesentlich angesehen werden. Die Verbindlichkeit muss daher eine im Verhältnis zur gesamten Erbschaft erhebliche und für den Wert des Nachlasses wesentliche Bedeutung haben.
Beruht die Entscheidung des Erben, die Erbschaft auszuschlagen, auf bewusst ungesicherter, also spekulativer Grundlage, berechtigt dies mangels eines rechtlich relevanten Irrtums (bloßer Motivirrtum) den Ausschlagenden nicht zur Anfechtung seiner Erklärung. Hatte der ausschlagende Erbe keine konkreten Kenntnisse von der Vermögenslage des Erblassers wegen Fehlens jeglichen Kontakts seit Jahrzehnten, hatte er sich nicht um Aufklärung der Vermögensverhä...