Rz. 101
Die Nichtigkeitsfolge des § 125 BGB wird durch den Grundsatz von Treu und Glauben nach § 242 BGB dahin gehend eingeschränkt, dass die Berufung auf die Nichteinhaltung der Form eine unzulässige Rechtsausübung darstellen kann. Dies ist dann der Fall, wenn es nach den Beziehungen der Parteien und den gesamten Umständen mit Treu und Glauben unvereinbar wäre, das Rechtsgeschäft am Formmangel scheitern zu lassen. Das Ergebnis müsste für die Parteien nicht nur hart, sondern untragbar sein. Diese allgemeinen zivilrechtlichen Grundsätze gelten auch für gesetzliche Formvorschriften im Arbeitsrecht.
Rz. 102
§ 242 BGB ist nicht anwendbar, wenn die Parteien den Formmangel kannten. Dies gilt auch dann, wenn ein Beteiligter die Einhaltung der Form nicht durchsetzt, weil er dies wegen der Rechtschaffenheit oder des Ansehens des Vertragspartners für überflüssig hält. Etwas anderes gilt, wenn ein Vertragspartner seine Machtstellung dazu ausgenutzt hat, die Formwahrung zu verhindern.
Rz. 103
Bei beidseitiger Unkenntnis ist § 242 BGB ebenfalls nicht anwendbar, es bleibt bei der Rechtsfolge der Nichtigkeit nach § 125 S. 1 BGB (zur Verwirkung bei weiterem Zuwarten siehe oben Rdn 97 ff.). Dies gilt auch dann, wenn eine Partei bei der anderen die irrige Vorstellung von der Formfreiheit veranlasst hat. Auch eine einseitige Kenntnis einer Partei von der Formbedürftigkeit des Rechtsgeschäfts begründet für sich noch keine Anwendung des § 242 BGB.
Rz. 104
Beispiel
Der Arbeitgeber ruft beim Arbeitnehmer die Vorstellung hervor, er könne ohne Beachtung einer Form kündigen.
Rz. 105
§ 242 BGB ist jedoch anwendbar, wenn der Kündigungsempfänger in Kenntnis der wahren Rechtslage den Kündigenden arglistig davon abgehalten hat, die schriftliche Form zu wahren. Auch ein Arbeitnehmer, der dem Arbeitgeber arglistig vorspielt, er könne formlos kündigen, kann sich nicht später auf die Unwirksamkeit seiner Eigenkündigung berufen, wenn er seine Entscheidung bereut, weil ein ihm in Aussicht gestelltes Arbeitsverhältnis bei einem anderen Arbeitgeber nicht zustande kommt. Jedoch ist der Arbeitgeber nicht gehalten, den Arbeitnehmer auf gegebenenfalls bestehende Formvorschriften hinzuweisen.
Ebenso kann sich aus dem nachträglichen Verhalten der Vertragsparteien ergeben, dass sich diese auf die Wirksamkeit des formwidrig vorgenommenen Rechtsgeschäfts verlassen haben. Erweckt der Gekündigte durch sein gesamtes Verhalten dem Kündigenden gegenüber dauerhaft zunächst den Eindruck, dass er die Erklärung für wirksam hält, kann er nach der Verfestigung dieses Eindrucks nicht mehr hiervon abrücken.
Rz. 106
Bei der Berufung auf den Grundsatz von Treu und Glauben darf es sich nicht um ein widersprüchliches Verhalten handeln.
Rz. 107
Beispiele
▪ |
Im Gerichtstermin wird dem Kündigenden in Anwesenheit des Erklärenden eine einfache Fotokopie der Kündigung übergeben; eine sofortige Einsicht in das Original ist möglich. In diesem Fall wäre es vom Erklärungsempfänger treuwidrig, wenn er nicht von diesen Aufklärungsmöglichkeiten Gebrauch macht oder die Erklärung wegen Nichteinhaltung der Form unverzüglich zurückweist, sondern sich erst geraume Zeit später auf den Formmangel beruft. |
▪ |
Ein Arbeitnehmer verhält sich widersprüchlich, wenn er ernsthaft und mehrfach mündlich kündigt, sich aber nachträglich auf die Formunwirksamkeit beruft. |
▪ |
Ein widersprüchliches Verhalten liegt auch vor, wenn der Arbeitgeber formwidrig kündigt, der Arbeitnehmer die Kündigung hinnimmt, eine neue Stelle antritt und sich der Arbeitgeber dann auf den Formmangel beruft und den Arbeitnehmer zur Wiederaufnahme der Arbeit unter Unterlassung der neuen Beschäftigung auffordert. Entsprechendes gilt, wenn der Arbeitnehmer formwidrig kündigt, der Arbeitgeber dies akzeptiert, die Stelle neu besetzt und der Arbeitnehmer sich dann auf den Formmangel berufen will. |
▪ |
Treuwidrig ist es auch, wenn der Kündigungsempfänger die mündlich ausgesprochene Kündigung schriftlich bestätigt, sich später aber auf den Formmangel beruft. |