Prof. Dr. Thomas Reich, Prof. Dr. Ulrich Voß
Rz. 52
Jedes Land definiert seine Anknüpfungsmerkmale selbst. Deutschland nutzt alle denkbaren Anknüpfungsmerkmale und knüpft an die persönlichen Verhältnisse sowohl des Erblassers als des Erwerbers an. Deutschland knüpft die Besteuerung aber in erster Linie an die Inländereigenschaft an (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG). Diese wird vom Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt und unter bestimmten Voraussetzungen aus der Staatsangehörigkeit abgeleitet. Befindet sich der Wohnsitz oder der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts am maßgeblichen Stichtag in Deutschland, hat die Staatsangehörigkeit keine Bedeutung mehr.
Rz. 53
Der deutsche Begriff des Wohnsitzes ist in § 8 AO definiert:
Zitat
§ 8 AO Wohnsitz
Einen Wohnsitz hat jemand dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird.
Rz. 54
Voraussetzung für die Annahme eines Wohnsitzes in Deutschland ist nicht, dass sich der Steuerpflichtige eine bestimmte Mindestanzahl von Tagen tatsächlich in der Wohnung aufhält. Eine Nutzung zu Wohnzwecken soll, etwa in Arbeitnehmer-Entsendefällen, auch dann vorliegen, wenn der Steuerpflichtige eine Wohnung innerhalb eines Kalenderjahres überhaupt nicht nutzt. Bei der Begründung eines Wohnsitzes ist jedoch zu beachten, dass dem entgegenstehen kann, wenn eine Wohnung von vornherein in der Absicht genommen wird, sie nur vorübergehend (bis zu sechs Monate) beizubehalten und zu benutzen. Die Annahme eines steuerlichen Wohnsitzes im Inland setzt jedoch nicht voraus, dass sich dort auch der Mittelpunkt der Lebensinteressen befindet oder dass der Steuerpflichtige von dort aus seiner täglichen Arbeit nachgeht. Eine Person kann zugleich in einem, aber auch in unterschiedlichen Ländern mehrere Wohnsitze haben. Ein Ehegatte/eingetragener Lebenspartner, der nicht dauernd getrennt lebt, hat seinen Wohnsitz regelmäßig dort, wo seine Familie lebt; diese Vermutung soll regelmäßig unabhängig davon gelten, welche räumliche Entfernung zwischen den Ehegatten/eingetragenen Lebenspartnern besteht. Minderjährige Kinder teilen grundsätzlich den Wohnsitz ihrer Eltern. Für Zwecke der Besteuerung ist es nach deutschem Recht irrelevant, ob der Steuerpflichtige nach dem Meldegesetz gemeldet ist oder ein Wille zur Begründung eines Wohnsitzes vorliegt, wie ihn §§ 7, 8 BGB fordern. Die Nutzung muss allerdings zu Wohnzwecken erfolgen, muss aber weder regelmäßig noch über eine längere Zeit erfolgen; erforderlich ist aber eine Nutzung, die über bloße Besuche, kurzfristige Ferienaufenthalte bzw. unregelmäßige kurze Aufenthalte zu Erholungs- oder zu Verwaltungszwecken hinausgeht. Der Steuerpflichtige muss die Wohnung "innehaben" und somit muss diese ihm in objektiver Hinsicht jederzeit (wann immer er es wünscht) als Bleibe zur Verfügung stehen; daran kann es bei sog. "Standby-Wohnungen oder -Zimmern" fehlen. Der BFH hat in einem Fall einen inländischen Wohnsitz angenommen, in dem ein Steuerpflichtiger Eigentümer einer Doppelhaushälfte war, die er regelmäßig nur zweimal im Jahr, dann allerdings mehrere Wochen am Stück, zur Jagd nutzte. Das FG Baden-Württemberg hat allerdings im Jahr 1996 in einem Urteil angenommen, dass "trotz" regelmäßiger, bis zu sechswöchiger Nutzung einer Eigentumswohnung zu Ferien- und Urlaubszwecken kein Wohnsitz gegeben sei.
Rz. 55
Praxishinweis:
Bei einer Gesamtschau der Entscheidungen entsteht der Eindruck, dass der Begriff des Wohnsitzes in Deutschland jedenfalls zu Ungunsten des Steuerpflichtigen sehr weit, wenn es aber darum geht, dass die Annahme des Wohnsitzes zugunsten des Steuerpflichtigen wirken würde, eher eng ausgelegt wird. Es muss daher berücksichtigt werden, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Begründung, Beibehaltung und Aufgabe eines Wohnsitzes nicht immer eindeutig ist.
Rz. 56
Von Ausnahmefällen abgesehen, in denen für die Beteiligten eine unbeschränkte Steuerpflicht günstiger ist, um etwa uneingeschränkt die Freibeträge nach §§ 16 Abs. 1, 17 Abs. 1, 2 ErbStG zu erhalten, ist zumindest dann, wenn sich auch im Ausland hohe Vermögenswerte befinden, eine auf Vermögen i.S.d. § 121 BewG beschränkte inländische Besteuerung wünschenswert. Besteht hingegen ein Wohnsitz in Deutschland, ist es für die inländische Besteuerung irrelevant, ob ein Steuerpflichtiger seinen Haupt- oder einen völlig untergeordneten Nebenwohnsitz in Deutschland hat. Einschränkungen für ein deutsches Besteuerungsrecht können sich dann nur noch aus einem DBA ergeben. Bei intakter Ehe wird eine unbeschränkte Steuerpflicht beider Ehegatten sogar dann angenommen, wenn nur einer von ihnen den Wohnsitz in Deutschland nutzt.
Rz. 57
Praxishinweis:
Während der Begriff des Wohnsitzes in Deutschland, jedenfalls zu Ungunsten des Steuerpflichtigen, sehr weit ausgelegt wird, kann dieser Begriff in anderen Staaten grundlegend anders definiert sein, z.B. als der Ort, in dem sich der Lebensmittelpunkt befindet, oder davon abhängig gemacht werden, ob bei Verlagerung ...