Rz. 92

Der Bundesgerichtshof leitet das ihm vorgegebene verfassungsrechtliche Erfordernis der Inhalts- und Ausübungskontrolle nicht nochmals ab, sondern legt vielmehr das rechtliche Instrumentarium für dessen Umsetzung fest. Indem er seine Kernbereichslehre also nicht primär verfassungsrechtlich, sondern einfachrechtlich begründet, eröffnet er einen Bewertungsspielraum für die Frage, ob seine Lehre auch vollständig den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entspricht. Das gilt vor allem für die Positionierung der Folgesache Güterrecht außerhalb des Kernbereichs. Darauf wird noch zurückzukommen sein.

 

Rz. 93

Nach seiner Rechtsprechung stehen Eheverträge und Scheidungsfolgenvereinbarungen im Spannungsfeld zweier Grundsätze:

Einerseits sind die Scheidungsfolgen (weiterhin) im Grundsatz disponibel (Ehevertragsfreiheit). Das Gesetz kennt keinen unverzichtbaren Mindestgehalt an Scheidungsfolgen.[62]
Andererseits darf der Schutzzweck der gesetzlichen Regelungen nicht beliebig unterlaufen werden.[63]
 

Rz. 94

Letzteres ist anzunehmen, wenn durch den Vertrag eine evident einseitige und durch die individuelle Gestaltung der ehelichen Lebensverhältnisse für den belasteten Ehegatten nicht gerechtfertigte Lastenverteilung entstünde, die hinzunehmen für den belasteten Ehegatten bei angemessener Berücksichtigung der Belange auch des anderen Ehegatten und seines Vertrauens in die Geltung der Abrede unzumutbar erscheint. Die Belastungen des einen Ehegatten wiegen dabei umso schwerer, je unmittelbarer die ehevertragliche Abbedingung in den Kernbereich des Scheidungsfolgenrechts eingreift.

 

Rz. 95

Die Argumentation des Bundesgerichtshofs ist wie folgt aufgebaut:

1. Voraussetzungen der Vertragskontrolle: evident einseitige, durch die individuelle Gestaltung der Lebensverhältnisse nicht mehr gerechtfertigte Lastenverteilung,
2. die angenommen wird, umso eher, je mehr die Vereinbarung in den Kernbereich des Scheidungsfolgenrechts eingreift.
3. Es kommt auf eine disparitätische Verhandlungssituation an (strukturelle Unterlegenheit).
4. Umsetzung der Vertragskontrolle: KERNBEREICHSLEHRE.
 

Rz. 96

Der Begriff der Kernbereichslehre ist nicht neu. Im Gesellschaftsrecht bezeichnet er einen Aspekt der Willensbildung im Rahmen des Minderheitenschutzes. Ist laut Satzung – in Abweichung vom gesetzlichen Einstimmigkeitsprinzip – ein Mehrheitsbeschluss grundsätzlich zulässig, darf ein solcher dennoch nicht in den Kernbereich des Gesellschafters eingreifen.[64] Dem gesellschaftsrechtlichen Kernbereich ist etwa das Stimmrecht oder das Recht zur Geschäftsführung zuzuordnen. Ein diesbezüglicher Eingriff ist nur mit Zustimmung des betroffenen Gesellschafters zulässig. Die gesellschaftsrechtliche Kernbereichslehre schützt den Rechtsträger (Gesellschafter) also vor Eingriffen Dritter (Mitgesellschafter).

 

Rz. 97

Die Besonderheit der ehevertraglichen Kernbereichslehre besteht demgegenüber – bei gleichem Grundgedanken im Übrigen – darin, dass sie auf Willenserklärungen nicht nur des Anderen, sondern auch auf die eigene, Anwendung findet, nämlich auf den durch diese Willenserklärungen geschlossenen Ehevertrag. Es geht darum, ob die vereinbarten Klauseln in den "Kernbereich des Scheidungsfolgensystems" eingreifen.[65]

 

Rz. 98

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs stehen nicht alle Folgesachen im Kernbereich, und nicht alle im Kernbereich stehenden Folgesachen haben rechtlich das gleiche Gewicht. In diesem Sinne hat sich ein sog. Kernbereichsranking[66] herausgebildet.

 

Rz. 99

 

Kernbereichsranking

1. Kindesbetreuungsunterhalt, § 1570 BGB
2. Alters- und Krankheitsunterhalt (§§ 1571, 1572 BGB, Versorgungsausgleich
3. Unterhalt wegen Erwerbslosigkeit (§ 1573 Abs. 1 BGB)
4. Krankenvorsorge- und Altersunterhalt (§ 1578 Abs. 2 Alt. 1, Abs. 3 BGB), es sei denn, sie teilen den Rang des zugrunde liegenden Unterhaltsanspruchs, weil sie zum Ausgleich ehebedingter Nachteile dienen[67]
5. Aufstockungs- und Ausbildungsunterhalt (§§ 1573 Abs. 2, 1575 BGB)
 

Rz. 100

Der Zugewinnausgleich befindet sich außerhalb des Kernbereichs und unterliegt regelmäßig keiner Beschränkung.[68]

 

Rz. 101

Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat sich dahin entwickelt, den ehebedingten Nachteilen eine zentrale Bedeutung beizumessen.[69]

Aktueller Stand ist, dass eine verwerfliche Gesinnung erforderlich ist, die sich in der Ausnutzung der unterlegenen Verhandlungsposition manifestiert.[70] Es ist daher der objektive Inhalt des Vertrages von den äußeren Umständen seines Zustandekommens zu unterscheiden und hierzu jeweils gesondert Sachvortrag zu halten. Der unausgewogene Vertragsinhalt indiziert die subjektive Sittenwidrigkeit also nicht. Hinzukommen müssen besondere Umstände wie die Ausnutzung einer Zwangslage, soziale oder wirtschaftliche Abhängigkeit, intellektuelle Unterlegenheit u.a.[71]

 

Rz. 102

Die strukturelle Unterlegenheit erfüllt das allgemeine Sittenwidrigkeitsmerkmal des Ausnutzens einer Machtposition. Hier sollte zunächst isoliert ein Blick auf den einen sowie auf den anderen Eh...

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