Rz. 37
Eine inkongruente Sicherung oder Befriedigung ist immer dann anzunehmen, wenn die vorgenommene Leistung des Schuldners von der auf Grundlage des vereinbarten Schuldverhältnisses spezifizierten Leistung zum Nachteil des Schuldners abweicht. Mit anderen Worten: Der Gläubiger erhält ein Recht oder eine Leistung gem. § 131 InsO, die er nicht, nicht in der Art oder nicht in der Zeit zu beanspruchen hatte. Anfechtbar ist nach § 131 InsO danach eine Rechtshandlung, die einem Insolvenzgläubiger eine Sicherung oder Befriedigung gewährt oder ermöglicht hat, die er nicht oder nicht in der Art (z.B. andere als geschuldete Leistung) oder nicht zu der Zeit (z.B. vorfällig) zu beanspruchen hatte,
1. |
wenn die Handlung im letzten Monat vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder nach diesem Antrag vorgenommen worden ist, |
2. |
wenn die Handlung innerhalb des zweiten oder dritten Monats vor dem Eröffnungsantrag vorgenommen worden ist und der Schuldner zur Zeit der Handlung zahlungsunfähig war oder |
3. |
wenn die Handlung innerhalb des zweiten oder dritten Monats vor dem Eröffnungsantrag vorgenommen worden ist und dem Gläubiger zur Zeit der Handlung bekannt war, dass sie die Insolvenzgläubiger benachteiligte. |
Rz. 38
Die Kenntnis von Umständen, die zwingend auf die Benachteiligung schließen lassen, steht dabei der Kenntnis der Benachteiligung gleich. Gegenüber einer Person, die dem Schuldner zur Zeit der Handlung nahestand (§ 138 InsO), besteht eine gesetzliche Vermutungsfiktion, dass sie die Benachteiligung der Insolvenzgläubiger kannte. Das Gesetz nimmt damit verschiedene Zeit- und Sachverhaltsunterschiede bei einer inkongruenten Deckung an. Im Falle der ersten Konstellation ist eine erlangte Sicherung oder Befriedigung, die der Schuldner nicht oder nicht in der Art oder nicht zu der Zeit zu beanspruchen hatte anfechtbar, wenn die Handlung im letzten Monat vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder nach diesem Antrag vorgenommen worden ist. Bei Befriedigungen im Wege der Zwangsvollstreckung wird bei bestehenden Krisenanzeichen nach gültiger Rechtslage regelmäßig von inkongruenten Deckungen ausgegangen.
Rz. 39
Im Falle der zweiten Konstellation ist eine erlangte Sicherung oder Befriedigung, die der Schuldner nicht oder nicht in der Art oder nicht zu der Zeit zu beanspruchen hatte, anfechtbar, wenn die Handlung innerhalb des zweiten oder dritten Monats vor dem Eröffnungsantrag vorgenommen worden ist und der Schuldner zur Zeit der Handlung zahlungsunfähig war. Der Gesetzgeber weitet den Anfechtungszeitraum daher aus, wenn eine Zahlungsunfähigkeit gegeben ist. Zahlungsunfähigkeit liegt regelmäßig dann vor, wenn der Schuldner 10 % oder mehr seiner fälligen Gesamtverbindlichkeiten länger als drei Wochen nicht erfüllen kann, sofern nicht ausnahmsweise mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass die Liquiditätslücke demnächst vollständig oder fast vollständig beseitigt werden wird und den Gläubigern ein Zuwarten nach den besonderen Umständen des Einzelfalls zuzumuten ist. Beträgt die innerhalb von drei Wochen nicht zu beseitigende Liquiditätslücke weniger als 10 %, liegt Zahlungsunfähigkeit nur vor, wenn bereits absehbar ist, dass die Lücke demnächst mehr als 10 % erreichen wird.
Rz. 40
Im Falle der dritten Konstellation ist eine erlangte Sicherung oder Befriedigung, die der Schuldner nicht oder nicht in der Art oder nicht zu der Zeit zu beanspruchen hatte, anfechtbar, wenn die Handlung innerhalb des zweiten oder dritten Monats vor dem Eröffnungsantrag vorgenommen worden ist und dem Gläubiger zur Zeit der Handlung bekannt war, dass sie die Insolvenzgläubiger benachteiligte. § 131 Abs. 2 InsO liefert hier jedoch eine sog. Beweiserleichterung, wonach es für die Kenntnis der Benachteiligung der Gläubiger ausreichend ist, wenn der Gläubiger Tatsachen kennt, aus denen sich zweifelsfrei ergibt, dass der Schuldner seine Zahlungspflichten nicht mehr vollständig erfüllen kann. Mit anderen Worten: Ergeben sich Indizien (Stundungen/Vollstreckungen etc.), ist der Gläubiger insoweit in der Bredouille.