Rz. 422
Angesichts der Komplexität heutiger Schadensregulierung und der mannigfaltigen Regulierungserschwernisse seitens der Assekuranz benötigt der Geschädigte anwaltliche Hilfe bei der Beurteilung der Haftungslage, für das Wissen um die ersatzfähigen Schadensposten und zur sachgerechten Durchsetzung seiner Ansprüche.
Rz. 423
Soweit die Auffassung vertreten worden ist, es stelle einen Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht dar, wenn der Geschädigte noch einen Anwalt beauftragt, obwohl sich der Versicherer schon bereit erklärt hat, zu 100 % zu regulieren (AG Hannover zfs 1983, 363), ist das nicht zu Ende gedacht: Das vollständige Haftungseingeständnis zum Haftungsgrund besagt nichts über die Regulierung zur Höhe des Anspruchs. Und da gibt es oft die meisten Probleme und heftig diskutierten Meinungsverschiedenheiten (Madert, zfs 1999, 488, Anm. zu AG Kusel zfs 1999, 487; ders., zfs 2002, 300, Anm. zu AG Balingen zfs 2002, 299). Diesen Grundsatz der bereits aufgrund der Kompliziertheit des Unfallschadensrechts selbst bei unstreitigem Haftungsgrund regelmäßig erforderlichen Einschaltung eines Rechtsanwalts hat glücklicherweise jüngst auch der BGH (BGH v. 29.10.2019 – VI ZR 45/19 – zfs 2020, 164 = r+s 2020, 112) anerkannt.
Rz. 424
Verkehrsunfälle sind prinzipiell geeignet, Streitigkeiten mit dem gegnerischen Haftpflichtversicherer sowohl im Tatsächlichen, als auch im Rechtlichen nach sich zu ziehen (AG Pforzheim zfs 2002, 300). Für einen Geschädigten ist es daher erforderlich, um einen solchen Streit möglichst von vornherein auszuschließen oder jedenfalls in geregelte Bahnen zu lenken, fachkundige Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dazu ist die Beiziehung eines Rechtsanwaltes ein geeignetes Mittel (AG Frankfurt zfs 1995, 148; AG Pforzheim zfs 2000, 301; AG Darmstadt zfs 2002, 71). "Gerade die immer unüberschaubarere Entwicklung der Schadenspositionen und der Rechtsprechung zu den Mietwagenkosten, Stundenverrechnungssätzen u.Ä. lässt es geradezu als fahrlässig erscheinen, einen Schaden ohne Einschaltung eines Rechtsanwalts abzuwickeln", so dass auch bei einfachen Verkehrsunfallsachen die Einschaltung eines Rechtsanwalts von vornherein als erforderlich anzusehen ist (OLG Frankfurt DAR 2015, 236).
Rz. 425
Das gilt auch, wenn es sich bei dem Geschädigten um eine Autovermietung oder ein sonstiges mit Schadensabwicklungen vertrautes Unternehmen handelt (BGH v. 29.10.2019 – VI ZR 45/19 – zfs 2020, 164 = r+s 2020, 112). Das ergibt sich unter anderem aus dem Grundsatz der Waffengleichheit, da der Haftpflichtversicherer meist über ein juristisch geschultes und erfahrenes Personal bezüglich der Abwicklung von Schadensfällen verfügt (AG Darmstadt zfs 2002, 71 u. 300). Ebenso ist für ein geschädigtes Taxiunternehmen entschieden worden (AG Saarburg zfs 2003, 200 f.). Etwas anderes könnte allenfalls dann gelten, wenn der Geschädigte über eine Rechtsabteilung oder zumindest über Regulierungserfahrungen mit Haftpflichtversicherern verfügt.
Rz. 426
Außerdem: Von sich aus wird kein Versicherer dem Geschädigten alle ihm nach der objektiven Rechtslage zustehenden Ansprüche freiwillig auszahlen, z.B. korrekt berechneten Nutzungsausfall, Kostenpauschale oder 130-%-Abrechnung statt Totalschaden. Entgegen anders lautenden Beteuerungen seitens der Assekuranz wird in der Praxis immer wieder unter juristisch falscher Bezugnahme auf angeblich "herrschende" oder "eindeutige" Rechtsprechung versucht, dem Geschädigten das vermeintliche Nichtbestehen seiner Ansprüche zu "verkaufen". Gerade deshalb ist grundsätzlich anwaltliche Hilfe geboten.
Rz. 427
Die gelegentlich von Gerichten zitierte Auffassung, der Anwalt habe sich statt eines Auftrages zur außergerichtlichen Tätigkeit sofort einen Klageauftrag erteilen zu lassen (OLG Hamm (24. ZS) NJW-RR 2006, 242), ist auf den Bereich der Verkehrsunfallregulierung nicht übertragbar und erscheint geradezu abwegig, wie der 6. ZS des OLG Hamm (OLG Hamm v. 19.6.08 – 6 U 48/08 – zfs 2008, 587 = NZV 2008, 521) erfreulicherweise noch einmal ausführlich klargestellt hat. Alleiniger Maßstab ist insoweit, ob der Versuch einer außergerichtlichen Regulierung mit Hilfe eines Anwalts Aussicht auf Erfolg bietet, was im Bereich der Verkehrsunfallregulierung regelmäßig der Fall ist (OLG Hamm a.a.O.; OLG Celle v. 25.10.2007 – 13 U 146/07 – AGS 2008, 161 = JurBüro 2008, 319). Jeder Anwalt weiß, dass in Unfallsachen zunächst die der Höhe nach geltend zu machenden Ansprüche festgestellt und belegt werden müssen, sodass ein sofortiger Klageauftrag ausscheidet.
Tipp
Zögerlichen Mandanten, die es sich noch überlegen wollen, ob sie anwaltliche Hilfe in Anspruch zu nehmen beabsichtigen, oder solchen, die den Fall erst selbst regulieren und nur bei später auftretenden Problemen auf den Anwalt zurückkommen wollen, sollte mit größtem Nachdruck klar gemacht werden, dass sie dann keinen qualifizierten Anwalt mehr finden werden, der bei gebotenem gleichen Arbeitsaufwand, aber deutlich reduziertem Streitwert derart "ausgelaugte Fälle" überne...