Prof. Dr. Martin Henssler, Christiane Pickenhahn
Rz. 18
Bereits seit Jahren wird eine weitergehende Flexibilisierung des Arbeitszeitgesetzes gefordert. Die wohl bekannteste Forderung betrifft die Abschaffung des Achtstundentages und die Umstellung von einer täglichen auf eine wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden (BDA Positionspapier, November 2015, S. 6; BDA New Work, Zeit für eine neue Arbeitszeit, 2018; moderater die Forderung nach einer Höchstarbeitszeit von 12 Stunden mit Ausgleichszeitraum von 12 Monaten s. BVAU Positionspapier, August 2015, S. 2; aber auch Sachverständigenrat, Jahresgutachten 2017/18, S. 386; Landesregierung NRW, Koalitionsvertrag 2017–2022, S. 46; zum Reformbedarf ferner Henssler, in: FS Moll, 2019, S. 233 ff.).
Mit der Forderung nach einer Abschaffung der täglichen Höchstarbeitszeit einher geht die Forderung nach einer Ausweitung der bisherigen Möglichkeiten zur Reduzierung der täglichen Mindestruhezeiten auf neun oder acht Stunden, die grundsätzlich (mit Ausgleichszeiträumen) unabhängig von "der Art der Arbeit" pauschal möglich sein sollen (BDA, New Work, Zeit für eine neue Arbeitszeit, 2018; BVAU, Positionspapier, S. 3).
Kumulativ oder isoliert wird für eine Nichtberücksichtigung von gelegentlich anfallenden Arbeiten, die zu kurzzeitigen Unterbrechungen der Arbeitszeit (in den Randbereichen der Ruhezeit) führen, plädiert (kurzes E-Mail "checken", Bissels/Meyer-Michaelis, DB 2015, 2331, 2333; Jacobs, NZA 2016, 733, 737; max. 15 Minuten: Krause, DJT 2016, B 46; Däubler, Internet und Arbeitsrecht, 2015, Rn 169k).
Rz. 19
Im Weißbuch "Arbeiten 4.0" 2016 wurde seitens des BMAS die Ergänzung des ArbZG um ein Wahlarbeitszeitgesetz vorgeschlagen, bei dem durch kumulativ die Einwilligung des Arbeitnehmers sowie ein Wahlarbeitskonzept auf betrieblicher Ebene Höchstarbeitszeiten bis zu 12 Stunden und Ruhezeitverkürzungen auf bis zu neun Stunden (an max. zwei Tagen in der Woche und mit gleichwertigem Ausgleich) durch eine zunächst zeitlich-befristete Tariföffnungsklausel ermöglichen sollten (BMAS, Weißbuch "Arbeiten 4.0", S. 124 ff.; Orientierung am Konzept des DJB, DJBZ 2015, 121–128.).
Bereits in der 19. Legislaturperiode wurde angekündigt, über eine Tariföffnungsklausel im Arbeitszeitgesetz Experimentierräume für tarifgebundene Unternehmen zu schaffen, um eine Öffnung für mehr selbstbestimmte Arbeitszeit der Arbeitnehmer und mehr betriebliche Flexibilität in der zunehmend digitalen Arbeitswelt zu erproben (Koalitionsvereinbarung 2018–2021, S. 52). Leider wurde jedoch weder die Ankündigung umgesetzt noch kam man in der 19. Legislaturperiode der Pflicht zur Umsetzung der Vorgaben aus dem EuGH-Urteil zur Arbeitszeiterfassung nach. Eine auf die mobile Arbeit beschränkte Regelung zur Arbeitszeiterfassung, wie sie der Entwurf des Mobile-Arbeit-Gesetzes des BMAS vorsah, scheiterte am Koalitionspartner (Entwurf abrufbar unter https://www.bmas.de/DE/Service/Gesetze-und-Gesetzesvorhaben/mobile-arbeit-gesetz.html). Einzig in der Fleischwirtschaft wurden weitergehende Pflichten zur Erfassung der Arbeitszeit geregelt (§ 6 GSA Fleisch). Auch der Koalitionsvertrag von SPD, Die Grüne und FDP sieht erneut eine Reform des ArbZG durch Flexibilisierung der Arbeitszeit über Tariföffnungsklauseln vor (Koalitionsvertrag 2021–2025). Am Grundsatz des Achtstundentags hält aber auch die Ampelkoalition fest. Ein Gesetzesentwurf ist für Ende 2022/Anfang 2023 angekündigt.
Rz. 20
Weniger im politischen Blickfeld, aber in der juristischen Fachliteratur zunehmend diskutiert wird die über das Arbeitszeitrecht hinausgehende Frage nach einem neuabgestuften Arbeitnehmerschutzniveau innerhalb des Arbeitnehmerkreises (zum Schutz von (Solo-) Selbstständigen § 82 Rdn 14). Dies betrifft insbesondere das bisher nicht einheitliche Verständnis, wer als leitender Angestellter anzusehen ist. Anstatt hohe Entscheidungsbefugnisse sowie Einstellungs- und Entlassungsbefugnisse zu verlangen, wird vorgeschlagen, die Qualifizierung als leitender Angestellter allein von der Höhe des Einkommens abhängig zu machen (s. Annuß, NZA 2017, 345, 349, der eine Anknüpfung an die zweifache Beitragsbemessungsgrenze vorschlägt; s. auch Brammsen, RdA 2010, 267, 271; Bauer/von Medem, NZA 2013, 1233; Hromadka, NZA 1997, 569). Vorschläge in diese Richtung werden bisher überwiegend aus rechtspolitischen und unionsrechtlichen Bedenken abgelehnt (Brors, NZA 2020, 1685, 1686; Henssler/Lunk, NZA 2016, 1425, 1429; Jacobs, NZA 2016, 733, 735; kritisch auch die EU-Kommission zur niederländischen Anknüpfung der dortigen Arbeitszeitverordnung an den dreifachen Mindestlohn, KOM(2017) 254, S. 11). Vorzugswürdig erscheint eine europarechtskonforme Erweiterung des Begriffs auf weitere Experten, bei der dem Kriterium der Befugnis zur autonomen Arbeitszeitgestaltung unter Berücksichtigung des Einkommens höheres Gewicht zugesprochen wird (Henssler/Lunk, NZA 2016, 1425, 1429, Pickenhahn, Unionsrechtliche Gestaltungsspielräume für die Arbeitszeit von Wissensarbeitern, 2021). So sieht auch die EU-Kommission einen unionsrechtli...