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§ 16 Abs. 2 ArbZG verpflichtet nach seinem Wortlaut den Arbeitgeber, die über die werktägliche Arbeitszeit des § 3 S. 1 ArbZG hinausgehende Arbeitszeit der Arbeitnehmer aufzuzeichnen. In Deutschland sind damit bisher, abgesehen von strengeren Regeln für die Fleischwirtschaft (§ 6 GSA Fleisch), nur Überstunden zu erfassen.

Teilweise wird mit beachtenswerten Argumenten davon ausgegangen, dass die Dokumentationspflichten des Arbeitszeitgesetzes auch nach dem EuGH-Urteil 2019 (v. 14.5.2019 – C-55/18, NZA 2019, 683) keiner Anpassung bedürfen, da die nationalen Regelungen zur Dokumentation und Aufsicht bereits die Anforderungen des EuGH erfüllen (Thüsing/Flink/Jänsch, ZfA 2019, 456, 480; Höpfner/Daum, RdA 2019, 270, 276). Nach überwiegender Ansicht genügt die bisher auf die Überstunden beschränkte Aufzeichnungspflicht des § 16 Abs. 2 ArbZG jedoch nicht den Anforderungen des Unionsrechts (Anzinger/Koberski, § 16 ArbZG Rn 15c; Baeck/Deutsch/Winzer; § 16 ArbZG Rn 24, Bayreuther, EuZW 2019, 446, 448).

Bis zum Beschl. des BAG vom 13.9.2022 (Az: ABR 22/21) war ungeklärt, ob die sich aus dem sozialen Grundrecht auf Begrenzung der Arbeitszeit nach Art. 31 Abs. 2 GRC ergebende Pflicht der Arbeitszeiterfassung im nationalen Recht bereits unmittelbar gilt oder erst, wenn der Gesetzgeber das Arbeitszeitgesetz entsprechend angepasst hat (für eine unmittelbare Wirkung ArbG Emden v. 20.2.2020 – 2 Ca 94/19, BeckRS 2020, 5213, Buschmann, AuR 2019, 291, 292; Latzel, EuZA 2019, 469, 472; a.A. Sittard/Esser, jM 2019, 284, 287; Fuhlrott/Garden, ArbRAktuell 2019, 263). Das BAG hat nunmehr eine unmittelbare Verpflichtung des Arbeitgebers zur Arbeitszeiterfassung national auf § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG gestützt. Danach sei der Arbeitgeber bereits jetzt verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann.

Inhaltlich ist man sich in Rechtsprechung und Schrifttum weitgehend einig, dass die Erfassungspflicht nicht die (Wieder-)einführung einer Stechuhr oder einer Echtzeitkontrolle durch den Arbeitgeber bedeuten, sondern dass auch die Selbstaufzeichnung durch den Arbeitnehmer weiterhin möglich bleiben muss. Allerdings bedarf es eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems, mit dem es jedem Arbeitnehmer möglich ist, die geleistete Arbeitszeit mithilfe der Aufzeichnungen objektiv nachzuweisen (Klein/Leist, ZESAR 2019, 365, 368). Manipulationen müssen ausgeschlossen sein und jeder Arbeitnehmer muss die Möglichkeit haben, die Dokumente einzusehen und im Bedarfsfall im Prozess als Beweismittel nutzen können (Klein/Leist, ZESAR 2019, 365, 369). Allerdings haben die arbeitsschutzrechtlichen Regelungen des Unionsrechts keinen Einfluss auf die Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich geleisteter Überstunden und deren notwendiger Vergütung. Zweitinstanzlich aufgehoben wurde daher die Entscheidung des ArbG Emden, nach welcher der unter Vorlage von Eigenaufzeichnungen geleistete Vortrag des Arbeitnehmers zu seiner Arbeitszeit regelmäßig gem. § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden gelte, wenn der Arbeitgeber kein Arbeitszeiterfassungssystem eingerichtet hat (so ArbG Emden v. 20.2.2020 – 2 Ca 94/19, BeckRS 2020, 5213, aufgehoben durch LAG Niedersachsen v. 6.5.2021 - 5 Sa 1292/20, dem folgend LAG Rheinland-Pfalz v. 19.2.2021 - 8 Sa 169/20).

Abweichungen von der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung kann der nationale Gesetzgeber zukünftig nur auf Grundlage des Art. 17 Abs. 1 RL 2003/88/EG für Arbeitnehmer, die ihre Arbeitszeit selbst bestimmen, vorsehen (sog autonome Arbeitnehmer, hierzu Pickenhahn, Unionsrechtliche Gestaltungsspielräume für die Arbeitszeit von Wissensarbeitern, 2021). Solange der Gesetzgeber keine ausdrückliche Abweichungsregelung ins nationale Recht aufnimmt, gilt die Erfassungspflicht grds. für alle Arbeitnehmer im Sinne des Unionsrechts (Rdn 2).

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