1. Haftpflicht und Deckung – das Trennungsprinzip
Rz. 101
Das sog. Trennungsprinzip differenziert zwischen dem Haftpflichtverhältnis zwischen dem Dritten und dem Versicherungsnehmer und dem Deckungsverhältnis zwischen dem Versicherungsnehmer und seinem Versicherer. Im Haftpflichtverhältnis wird geklärt, ob und in welcher Höhe der Versicherungsnehmer dem Geschädigten gegenüber schadensersatzpflichtig ist. Das Deckungsverhältnis betrifft die Frage, ob und inwieweit anlässlich des Haftpflichtschadens wiederum der Versicherer seinem Versicherungsnehmer Versicherungsleistungen zu gewähren hat, also ob versicherungsrechtliche Einwendungen (Ausschlüsse, Obliegenheitspflichtverletzungen etc.) greifen. Prozessual sind die jeweiligen Tatsachen und Rechtsfragen dann zwischen den entsprechenden Parteien im Haftpflicht- bzw. im Deckungsprozess zu klären.
Rz. 102
Materiell-rechtlich hat das Bestehen einer Haftpflichtversicherung keinen Einfluss auf die Haftpflichtfrage. Die Rechtsprechung macht hiervon allerdings Ausnahmen. So besteht etwa bei Gefälligkeitsverhältnissen eigentlich ein konkludenter Haftungsausschluss, der bei vorhandener Haftpflichtversicherung wiederum entfallen soll.
Rz. 103
Notwendige Ergänzung des Trennungsprinzips ist die Bindungswirkung eines rechtskräftigen Haftpflichturteils für den späteren Deckungsprozess. Ein rechtskräftiges Haftpflichturteil bindet in seinen Tatsachengrundlagen die Parteien im nachfolgenden Deckungsprozess; die im Haftpflichturteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen dürfen im Deckungsprozess nicht infrage gestellt werden.
Rz. 104
Die Bindungswirkung greift aber nur bei Voraussetzungsidentität, d.h., wenn der im Deckungsprozess maßgebliche Umstand sich auch im Haftpflichtprozess bei objektiv zutreffender rechtlicher Würdigung als entscheidungserheblich erweist. Eine Bezugnahme auf im Haftpflichtprozess thematisierte andere oder gar weitere Pflichtverletzungen, die zu versicherungsrechtlichen Ausschlüssen führen könnten, aber haftungsrechtlich irrelevant sind, ist dem Versicherer im Deckungsprozess verwehrt. Die rechtliche Einordnung der Feststellungen aus dem Haftpflichtprozess ist außerdem nicht bindend.
Beispiel 1
Das Erstgericht bejaht im Haftpflichtprozess einen Vorsatz sowohl bezüglich der Verletzungshandlung als auch hinsichtlich der Verletzungsfolgen.
Haftungsrechtlich ist nur entscheidend, ob der Versicherungsnehmer die Tat selbst vorsätzlich begangen hat. Ein die Verletzungsfolgen umfassender Vorsatz ist nicht nötig. Das Gericht hat also eine für die Haftung unerhebliche Bewertung vorgenommen.
Der Versicherer muss im Deckungsprozess den Vorsatz des Versicherungsnehmers (vgl. Rdn 80 ff.) hinsichtlich der Verletzungsfolgen nachweisen, denn es fehlt an der Voraussetzungsidentität.
Beispiel 2
Im Haftpflichtprozess wird für einen nach § 104 SGB VII privilegierten Schulunfall ein vorsätzliches Handeln des mitversicherten Schülers und darüber hinaus festgestellt, dass sich der Vorsatz auch auf die Verletzungsfolgen bezogen hat.
Damit stehen die maßgeblichen Tatsachen für einen Deckungsausschluss (vgl. Rdn 80 ff.) wegen einer Vorsatztat fest, denn die Frage des qualifizierten Vorsatzes hinsichtlich der Verletzungshandlung und ihrer Folgen ist sowohl haftungs- als auch deckungsrechtlich relevant. Die nötige Voraussetzungsidentität ist gegeben.
Rz. 105
Die Bindungswirkung kann also für den Versicherungsnehmer auch nachteilig sein, wenn Tatsachen eines versicherungsrechtlichen Deckungsausschlusses festgestellt werden.
Rz. 106
Bei kollusivem Zusammenwirken des Geschädigten und des Versicherungsnehmers zum Nachteil des insoweit darlegungs- und beweisbelasteten Versicherers entfällt die Bindungswirkung.
Rz. 107
Die Bindungswirkung ist keine Rechtskrafterstreckung, sondern die materiell-rechtliche Auswirkung des Haftpflichtvertrages, die sich aus dem Leistungsversprechen ergibt.
Rz. 108
Auch ein Versäumnisurteil unterliegt der Bindungswirkung. Weil die Entscheidung dann aber keine Begründung enthält, ist für die als feststehend geltenden Tatsachen auf den Inhalt der Klageschrift zurückzugreifen. Dabei ist zu prüfen, ob der Klägervortrag für den Deckungsprozess maßgebliche Tatsachen enthält. Eine mögliche Bindungswirkung besteht zunächst unabhängig davon, ob der Versicherer am Haftpflichtprozess teilgenommen hat.
Interessengerecht ist die Bindungswirkung bei Versäumnisurteilen aber nur, wenn der Versicherer überhaupt in der Lage war, auf den Haftpflichtprozess in der Weise Einfluss zu nehmen, dass er ein Versäumnisurteil hätte verhindern können.
Rz. 109
Ein durch den Versicherungsnehmer ohne Zutun des Versicherers erwirktes Anerkenntnisurteil ist ungeachtet der Tatsache, dass es sich hierbei um ein Urteil handelt, im Hinblick auf A 1 Ziff. 4.1 Abs. 2 S. 2 AVB/Ziff. 5.1. Abs. 2 S. 2 AHB (vgl. Rdn 53 f.) nur bindend, wenn es der materiellen Rechtslage entspricht.
Dieser Rechtsgedanken ist auch auf Fälle übertragbar, in denen der Versicherungsnehmer seinen Versicherer bewusst nicht über das Verfahren informiert...