Rz. 86
Zweck des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) ist es, die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer (…) bei der Arbeitszeitgestaltung zu gewährleisten und die Rahmenbedingungen für flexible Arbeitszeiten zu verbessern (§ 1 Nr. 1 ArbZG). Das Arbeitszeitgesetz ist mithin Teil des allgemeinen Arbeitsschutzrechts. Dieser Schutz ist dahingehend ausgestaltet, dass das ArbZG die allgemeine Höchstdauer für die tägliche Arbeitszeit festsetzt, die zeitliche Lage der Arbeitszeit regelt, Arbeitspausen und Ruhezeiten vorschreibt sowie die Sonn- und Feiertagsarbeit beschränkt. Auch im Zusammenhang mit den nach § 4 ArbZG notwendigen Pausen lassen sich die besonderen Herausforderungen von Arbeit 4.0 herausarbeiten: Die Pausen nach § 4 ArbZG gehören zur Organisationspflicht des Arbeitgebers. Insoweit hat der Arbeitgeber z.B. bei der Programmierung von Robotern darauf zu achten, dass entsprechende Pausenzeiten vorgegeben werden, denn je nach Konfiguration des Zusammenwirkens zwischen Menschen, Maschinen und Robotern, sind es die Maschinen und Roboter, die den Takt (mit) bestimmen. Siehe ausführlich zum Arbeitszeitrecht im Kontext der Digitalisierung § 3 Rdn 1 ff.
Rz. 87
Das Arbeitszeitgesetz regelt die Arbeitgeberpflichten in Bezug auf die Arbeitszeit allerdings nicht abschließend, denn die Grundverpflichtung des Arbeitgebers, Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit zu gewährleisten (§ 3 Abs. 1 ArbSchG), gilt auch für Fragen der Arbeitszeit. § 3 Abs. 1 ArbSchG greift mithin als Auffangnorm, soweit arbeitszeitbezogene Gefährdungen vom Arbeitszeitgesetz nicht erfasst sind, was insbesondere bei der fortschreitenden Entgrenzung der Arbeitszeit relevant ist. Einen praktischen Anwendungsfall bietet hierbei die "ständige Erreichbarkeit", welche für die Arbeitnehmer zu einer psychischen Belastung führen kann und die daher an der Generalklausel des § 3 ArbSchG zu messen ist, was auch bei der Gefährdungsbeurteilung nach § 5 ArbSchG zu berücksichtigen ist (vgl. § 5 Abs. 3 Nr. 4 ArbSchG, der die Arbeitszeit ausdrücklich als mögliche Gefährdung nennt).
Rz. 88
Im Zusammenhang mit der fortschreitenden Digitalisierung der Arbeitswelt ergeben sich neben den neuen Freiheiten und Möglichkeiten auch Folgeprobleme bei der Arbeitszeitgestaltung. Der klassische "Nine-to-five-Job" hat in vielen Arbeitsbereichen an Bedeutung verloren; der Arbeitnehmer, der schon morgens in der Bahn auf dem Weg in das Büro seine dienstlichen E-Mails checkt, ist keine Seltenheit mehr. Im modernen Arbeitsleben kommt es folglich immer mehr zu einer Entgrenzung der Arbeit. Nicht zuletzt das bereits angesprochene "BYOD"-Konzept (siehe dazu ausführlich § 6 Rdn 161 ff.) führt für viele Beschäftigte durch die Mehrfachnutzung ihrer mobilen Endgeräte zu einer Verschmelzung von Privatleben und Arbeit. Manche Arbeitgeber erwarten auch von ihren Arbeitnehmern, in der Freizeit oder sogar nachts bzw. während der Ruhezeit auf Anrufe oder E-Mails zu reagieren. Dies führt zu einer Informationsflut, einer 24h-Erreichbarkeit sowie zu de facto verlängerten Arbeitszeiten. Tatsächlich sind auch die meisten Berufstätigen für dienstliche Anrufe oder Mails ständig erreichbar. Anschaulich ist in diesem Zusammenhang eine im Auftrag des BMAS durchgeführte repräsentative Studie, in der auf die Frage "Wie häufig kommt es vor, dass Sie in Ihrer Freizeit dienstlich angerufen werden oder dienstliche E-Mails beantworten?" folgende Antworten gegeben wurden:
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"täglich": 5 %, |
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"einige Male pro Woche": 15 %, |
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"einige Male im Monat": 25 %, |
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"einige Male im Jahr": 25 %, |
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"nie": 35 %. |
Eine Beschränkung der Arbeitsleistung auf den klassischen Arbeitsort und die klassische Arbeitszeit existiert in vielen Bereichen nicht mehr. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass der 2. Deutsche Arbeitsrechtstag im Januar 2016 in Berlin das Hauptthema "Entgrenzte Arbeitswelt – Zwischen Überforderungsschutz und individueller Gestaltungsfreiheit" erörterte. Dabei wurde vor allem die Frage diskutiert, ob das geltende Arbeitszeitrecht einer Reform bedarf. Dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass das Arbeitszeitgesetz von der Vorstellung geprägt ist, dass der Arbeitnehmer seine Arbeit im Betrieb verrichtet.
Der Reformbedarf wird dabei unterschiedlich beurteilt, wobei festzuhalten ist, dass das Arbeitszeitgesetz mit der ständigen Erreichbarkeit der Arbeitnehmer zumindest soweit in Einklang steht, als von den Bestimmungen der §§ 3, 5 ArbZG gemäß § 7 ArbZG abweichende Regelungen zugelassen werden können. Rufbereitschaft oder kürzere Ruhezeiten lassen sich bei entsprechendem Zeitausgleich unter bestimmten Voraussetzungen vereinbaren. Nicht selten bedeutet eine solche Regelung eine Art von Interessenkollision – während dem Arbeitnehmer seine Ruhezeiten zur Erholung wichtig sind, liegt die ständige Erreichbarkeit im Interesse manches Arbeitgebers. Eine damit möglicherweise einhergehende "Überdosis" an Anstrengung für den Arbeitnehmer kann si...