Rz. 34
Ob der Schmerzensgeldbetrag bei Verwirklichung eines Tatbestandes der Gefährdungshaftung niedriger zu bemessen ist als bei einer Verschuldenshaftung, ist ein durch die Reform "hausgemachtes" Problem (Diehl, zfs 2007, 10). Der BGH vertrat seit je her die Auffassung, dass sowohl die Ausgleichs- als auch die Genugtuungsfunktion die Schmerzensgeldhöhe bestimme (BGH VersR 1955, 615 ff.). Bei einer Verwirklichung lediglich eines Tatbestandes der Gefährdungshaftung kann die Genugtuungsfunktion wegen fehlenden Verschuldens des Schädigers kein Bewertungsgesichtspunkt sein, sodass sich die Frage stellt, ob damit die Bemessung des Schmerzensgeldes niedriger auszufallen hat.
Rz. 35
Dagegen sprechen gute Gründe: Zweifelhaft war schon die Richtigkeit der von dem Großen Zivilsenat angenommenen Doppelfunktion des Schmerzensgeldes (Diehl, a.a.O., siehe Rn 98 ff.). Bis zu dieser Entscheidung ging die Rechtsprechung davon aus, dass es sich bei dem Schmerzensgeld um eine auf dem Ausgleichsgedanken beruhende Entschädigung handele. Die Befürworter einer Reduzierung des Schmerzensgeldes bei einem Wegfall der Genugtuungsfunktion verkennen, dass die Genugtuungsfunktion bei der Schmerzensgeldbemessung eines durchschnittlichen Verkehrsunfalls keine Rolle spielt.
Rz. 36
Allenfalls bei vorsätzlichem oder grob fahrlässigem Verhalten im Straßenverkehr erscheint eine Berücksichtigung dieser Begehensweisen bei der Bestimmung der Höhe des Schmerzensgeldes angezeigt (Diehl, a.a.O.).
Rz. 37
Hinzu tritt ein pragmatisches Argument:
Ziel der Reform des Schmerzensgeldanspruchs war es auch, dem Gericht die zeitaufwändige Aufklärung von Verschuldensfragen zu ersparen. Es ist für die Schmerzensgeldbemessung sicher ohne Bedeutung, ob dem Kraftfahrer ein Versehen i.S.v. – regelmäßig: leichter – Fahrlässigkeit unterlaufen ist oder ob er nur nicht entlastet ist. In diesen Fällen kann deshalb die – oft sehr teure – Aufklärung, ob den Kraftfahrer ein Verschulden trifft oder nicht, unterbleiben. Etwas anders ist es jedoch, wenn es nicht nur um die Schmerzensgeldhöhe, sondern bei beiderseitiger Verantwortlichkeit um die Ermittlung der Haftungsquote geht.
Rz. 38
Wäre mit einer Ableitung des Schmerzensgeldanspruchs aus Gesichtspunkten der Gefährdungshaftung ein Abschlag verbunden, müsste der Anwalt des Geschädigten bei pflichtgemäßer Erfüllung seines Mandats auf einer Klärung der Verschuldensfrage bestehen, um seinem Mandanten den höheren Anspruch zu erhalten. Der vom Gesetz gewollte Effekt einer prozessökonomischen Behandlung des Schmerzensgeldanspruchs würde nicht erreicht werden.
Rz. 39
Insoweit ist auch darauf hinzuweisen, dass die Rechtsprechung schon bisher z.B. bei der Tierhalterhaftung aus § 833 S. 1 BGB dem Gesichtspunkt, dass es sich um eine reine Gefährdungshaftung handelt, im Rahmen der Schmerzensgeldbemessung kaum eine Bedeutung beigemessen hat.
Rz. 40
Es ist inzwischen als geklärt anzusehen, dass bei einer Haftung ohne Verschulden (reine Gefährdungshaftung) das Schmerzensgeld nicht geringer zu bemessen ist (Heß/Burmann, in: Berz/Burmann, Kap. 6 F Rn 28 unter Hinweis auf OLG Celle NJW 2004, 1185; Lemcke, zfs 2002, 318 ff.).
Rz. 41
Die Ausweitung des Schmerzensgeldes bei Verletzung der aufgeführten absoluten Rechtsgüter (Körper, Gesundheit) auch ohne Nachweis eines Verschuldens führt im Straßenverkehr sicherlich zu einer nicht unerheblichen Ausweitung des Schadensvolumens. Während die materiellen Schäden schon immer im Rahmen der Gefährdungshaftung ausgeglichen wurden und im Zweifel die Haftungsbeiträge der beteiligten Fahrzeuge nach dem Straßenverkehrsrecht aufgeteilt wurden, war bislang ein Schmerzensgeld bei Nichtaufklärbarkeit des Unfallgeschehens, d.h. wenn keine Feststellung zu einem schuldhaften Verursachungsbeitrag getroffen werden konnte, nicht zu zahlen.
Rz. 42
Der durch die neue Regelung eingetretene Mehraufwand sollte im Bereich des Schmerzensgeldes ursprünglich dadurch kompensiert werden, dass die Gewährung des Schmerzensgeldes nach der Neuregelung davon abhängig gemacht wird, dass der Schaden unter Berücksichtigung von Art und Dauer "nicht unerheblich" ist. Das Ziel des Gesetzgebers war es seinerzeit, die zur Verfügung stehenden Geldmittel auf die schwerer Verletzten zu konzentrieren.
Rz. 43
Die Ausweitung des Schmerzensgeldes auf Fälle der Gefährdungshaftung und der Vertragshaftung sollte durch die Einführung einer Erheblichkeitsschwelle von 1.000 DM = 500 EUR kompensiert werden (Referentenentwurf, Begründung, S. 34). Diese Erheblichkeitsschwelle, die für die nach wie vor aktuelle HWS-Diskussion Bedeutung gehabt hätte, ist in der letzten Lesung des BT ersatzlos gestrichen worden. Es gilt somit weiterhin wie bisher, dass ein Schmerzensgeldanspruch des Geschädigten allenfalls nur bei einer extremen Bagatellverletzung ausscheidet.