Rz. 236

Ganz anders sieht das aber aus, wenn eine so genannte Tendenz-, Renten- bzw. Begehrensneurose vorliegt. Das ist dann der Fall, wenn der Geschädigte an einer zwar durch das Unfallerlebnis ausgelösten, letztlich aber charakterlich bedingten und in abartigen Rechts- und Sicherheitsvorstellungen oder in unangemessenen Wunsch- und Begehrenstendenzen wurzelnden seelischen Reaktion leidet (BGH VersR 1968, 396; 1979, 718, 719; 1986, 240; OLG Brandenburg r+s 2016, 317).

 

Rz. 237

Charakteristisch ist also, dass der seelische Versagenszustand des Betroffenen im Wesentlichen nur durch das – bewusste oder unbewusste – Streben nach Versorgung und Sicherheit oder durch ein starres Anklammern an eine vorgestellte Rechtsposition zu erklären ist, durch das erst das Bestehen eines Unfallschadens psychisch fixiert wird. Das ist dann der Fall, wenn der Geschädigte den Unfall in neurotischem Bestreben nach Versorgung und Sicherheit lediglich zum Anlass nimmt, den Schwierigkeiten und Belastungen des Erwerbslebens auszuweichen.

 

Rz. 238

In solchen Fällen ist es dem Schädiger nicht mehr zuzumuten, durch Ersatzleistungen zu der Verfestigung dieses Zustandes beizutragen (BGH VersR 1968, 396; 1979, 718, 719; 1986, 240). Deshalb gibt es in solchen, außerhalb des Verantwortungsbereichs des Schädigers liegenden Fällen keinen Ersatz. Im Gegensatz zu der Konversionsneurose führt eine Begehrensneurose also nicht zu einem Schadensersatzanspruch (herrschende Rechtsprechung des BGH, BGH zfs 1998, 93 = DAR 1998, 63 = NJW 1998, 810).

 

Beachte

Die Beweislast für das Fehlen eines solchen Zurechnungszusammenhangs obliegt dem Schädiger (BGH VersR 1986, 240). Erkenntnisunsicherheiten gehen zu Lasten des Schädigers.

 

Rz. 239

Die Versagung von Schadensersatz bei derartigen Neurosen beruht auf der Erwägung, dass bei ihnen zwar ein unmittelbarer ursächlicher Zusammenhang mit dem vorausgegangenen Unfallereignis besteht, die psychische Störung jedoch ihr Gepräge durch die bewusste oder unbewusste Begehrensvorstellung nach einer Lebenssicherung oder die Ausnutzung einer vermeintlichen Rechtsposition erhält und derart im Vordergrund steht, dass der erforderliche Zurechungszusammenhang mit dem Unfallereignis nicht mehr bejaht werden kann (vgl. v. Gerlach in seiner Anm. zu dem Urteil des BGH v. 11.11.1997, DAR 1998, 213, 214).

 

Rz. 240

Voraussetzung ist demnach ein Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen der Verletzungshandlung und den psychischen Folgen. Schmerzensgeld ist demnach nur dann zu zahlen, wenn die Neurose nicht auch ohnehin bei jedem beliebigen anderen Anlass in Kürze ausgebrochen wäre.

 

Rz. 241

 

Tipp

Der Anwalt sollte stets von dem Vorliegen einer allein unfallbedingten Konversionsneurose ausgehen. Die Beweislast für das Vorliegen lediglich einer Rentenneurose trägt nämlich der Schädiger (BGH NJW 1986, 777; KG DAR 2002, 211). Diese Frage kann nur durch einen Psychiater beurteilt werden. Vorsicht aber bei der Auswahl des sachverständigen Arztes: Für manche Ärzte ist offenbar jeder Verletzte nach gewisser Zeit ein Rentenneurotiker!

 

Rz. 242

Die Schadensersatzpflicht für psychische Unfallauswirkungen setzt nicht voraus, dass sie eine organische Ursache haben (BGH DAR 1991, 259).

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