1. Bagatellverletzungen
Rz. 169
Grundsätzlich gibt es bislang keine Einschränkungen im Hinblick auf die Höhe von Schmerzensgeldern aufgrund des Umfanges der Verletzungen. Den Begriff der "Bagatellverletzung" oder deren besondere Behandlung kennt das Gesetz weder in § 847 BGB a.F. noch nach der neuen Fassung des § 253 BGB.
Rz. 170
Gleichwohl mehrten sich die Stimmen und ließen sich zunehmend Gerichtsurteile finden, die bei leicht fahrlässig verursachten Bagatellverletzungen kein Schmerzensgeld mehr zuerkennen wollen. Der Gesetzgeber beließ es aber bewusst bei der bisherigen Gesetzeslage.
Rz. 171
Die Rechtsprechung stützt sich bei der zuvor erwähnten Rechtsprechung auf den Begriff der "Billigkeit" in § 847 BGB a.F. Bei geringfügigen Verletzungen des Körpers ohne wesentliche Beeinträchtigung der Lebensführung und ohne Dauerfolgen hält sich der Tatrichter im Rahmen des durch § 287 ZPO eingeräumten Ermessens, wenn er prüft, ob es unter den Umständen des Einzelfalles der Billigkeit entspricht, den immateriellen Schaden durch ein Schmerzensgeld auszugleichen (BGH zfs 1992, 114; OLG München VersR 1979, 726).
Rz. 172
An den Begriff einer "Bagatelle" i.S.d. BGH-Rechtsprechung sind aber ganz besonders strenge Anforderungen zu stellen. Der BGH setzte diese Schwelle in der Vergangenheit wesentlich niedriger an, als dies in der Regel die Instanzgerichte taten.
Rz. 173
Bei der Frage der Geringfügigkeit ist auf die bei dem Unfall erlittene Primärverletzung abzustellen.
Rz. 174
Von einer Bagatelle kann nur dann die Rede sein, wenn es sich um "vorübergehende, im Alltagsleben typische und häufig auch aus anderen Gründen als einem Unfall entstehende Beeinträchtigungen [handelt], die sowohl von der Intensität als auch von der Art her ganz geringfügig sind und üblicherweise den Verletzten nicht nachhaltig beeindrucken, weil er schon aufgrund des Zusammenlebens mit anderen Menschen daran gewöhnt ist, vergleichbaren Störungen seiner Befindlichkeit ausgesetzt zu sein" (BGHZ 137, 142 = NJW 1998, 810 = r+s 1998, 20 = VersR 1998, 20; BGH zfs 1992, 114; BGH zfs 1998, 93).
Rz. 175
Dies sind demnach Verletzungen, die einen geringen, nur vorübergehenden Einfluss auf das Allgemeinbefinden haben, wie z.B. Kopfschmerzen oder Schleimhautreizungen (vgl. BGH NJW 1992, 1043 f.). Darüber hinaus dürften im Regelfall auch leichtere oberflächliche Weichteilverletzungen, wie Schürfwunden, Schnittwunden und Prellungen sowie leichtere Verletzungen des Bewegungsapparates, wie Zerrungen und Stauchungen, als Bagatellverletzungen einzustufen sein.
Rz. 176
Die Bestimmung eines angemessenen Schmerzensgeldes ist unverändert originäre Aufgabe der Gerichte, die hierbei die besonderen Umstände jedes Einzelfalles berücksichtigen müssen. Eine feste "Erheblichkeitsschwelle", wie die im Regierungsentwurf zunächst noch vorgesehenen 1.000 DM = 500 EUR gibt es also nicht.
Rz. 177
Unter diesen Voraussetzungen sind z.B. eine Schädelprellung und ein HWS-Trauma zwar als grundsätzlich geringfügig anzusehen. Sie können somit Bagatellverletzungen sein (anders noch früher v. Gerlach in seiner Anm. zu dem Urteil des BGH v. 11.11.1997, DAR 1998, 213.). Sie begründen aber unverändert auch nach dem neuen Recht Schmerzensgeld in den bekannten Beträgen.
Rz. 178
Schon auf den Verkehrsgerichtstagen 1977 und 1996 sind im Kern Empfehlungen ausgesprochen worden, die mit den (nun doch nicht realisierten) Überlegungen des Gesetzesgebers gleich lautend waren, nämlich zugunsten der Anhebung der Schmerzensgelder Schwerstverletzter auf die Zuerkennung von Bagatellschmerzensgeldern zu verzichten. In den dort gehaltenen Referaten ist aber zutreffend darauf hingewiesen worden, dass es ohne Änderung der gesetzlichen Norm nicht zu rechtfertigen ist, bei geringen Verletzungen generell kein Schmerzensgeld zuzuerkennen. Es ist auch kein einziger praktizierbarer Vorschlag bekannt, wie diese Verschiebung zugunsten der Schmerzensgelder Schwerstverletzter in der Praxis erfolgen soll. Denn eines ist wohl auch dem Gesetzgeber klar geworden: Wenn eine Erheblichkeitsschwelle eingeführt wird, führt das noch lange nicht zur Ausschüttung der dadurch eingesparten Gelder an Schwerverletzte. Die Gefahr, dass dann wieder ausschließlich eine Minimierung der auszuzahlenden Schadenssummen der Versicherer eintritt, hat wohl sogar der Gesetzgeber gesehen.
Rz. 179
Solange das in der Praxis nicht gewährleistet ist, ist es grundsätzlich abzulehnen, bei Bagatellverletzungen kein Schmerzensgeld zuzuerkennen. Bis die Spruchpraxis der Gerichte so weit wäre, würden Jahre vergehen. Bis dahin – so ist zu befürchten – würden zwar die Bagatellschmerzensgelder gekappt werden, ohne dass sich aber bei den Schmerzensgeldern der Schwerstverletzten etwas ändert. Den Profit würden die Versicherer einstreichen. Jeder Geschädigtenvertreter ist also schon jetzt dringend aufgerufen, auf der Basis der damaligen Gesetzesbegründung zu argumentieren, dass die Schmerzensgelder bei Schwerverletzten angehoben und deutlich höhere Schmerzensgelder durchgesetzt werden müssen. Eine Steiger...