Andre Naumann, Christian Brinkmann
Rz. 44
Die Versehensklausel wird in unterschiedlichen Ausgestaltungen vereinbart. Sie wurden bereits vor Einführung des VVG n.F. verwendet und sollten die Härte beseitigen, dass bei einer Fehleinschätzung der tatsächlichen Schwere von Unfallfolgen und der darauf beruhenden verspäteten Schadenmeldung ein kompletter Verlust des Leistungsanspruchs (unter Geltung des alten VVG) möglich war. Es sollten Fälle einer leichten Fahrlässigkeit nicht "bestraft" werden.
Rz. 45
Muster 4: Musterbedingung versehentlich verspätete Meldung (Versehen 1)
Abweichend von Ziff. … AUB gilt es nicht als Obliegenheitsverletzung, wenn die Unfallfolgen zunächst geringfügig erscheinen und der Versicherte erst dann den Arzt hinzuzieht und den VR unterrichtet, wenn der wirkliche Umfang erkennbar wird.
Rz. 46
Liegt objektiv eine verspätete Schadenmeldung vor, so gilt dies nach Bedingung Versehen 1 nicht als Obliegenheitsverletzung, wenn die Unfallfolge zunächst geringfügig erscheint und deshalb versehentlich der Arzt nicht unmittelbar hinzugezogen wurde und die Meldung deshalb verspätet erfolgte.
Nicht erfasst ist eine verspätete Meldung, die sich dadurch ergibt, dass der VN seine Unfallversicherung vergessen hatte. Die Klausel privilegiert nur die Diskrepanz zwischen individueller Einschätzung und objektivem Bestehen der medizinischen Situation. Erfolgt eine Behandlung, die einen Leistungsanspruch prinzipiell auslöst, unterlässt der VN aber die Schadenanzeige, dann liegt eine nicht durch die Versehensklausel privilegierte Obliegenheitsverletzung vor.
Rz. 47
Muster 5: Musterbedingung versehentliche Obliegenheitsverletzung (Versehen 2)
Unterbleibt versehentlich die Anzeige bzw. die Erfüllung einer vertraglichen Obliegenheit, so beeinträchtigt das die Leistungspflicht des VR nicht, es sei denn, der VR weist nach, dass es sich hierbei nicht um ein Versehen des Versicherten handelt und der Versicherte nach Erkennen die Anzeige nicht unverzüglich nachgeholt bzw. die Obliegenheit nicht unverzüglich erfüllt hat.
Rz. 48
Bedingung Versehen 2 beseitigt die Obliegenheit nicht, sondern vereinbart für bestimmte Obliegenheitsverletzungen, dass diese folgenlos bleiben. Es ändert sich also die Rechtsfolge. Beide Formen laufen entsprechend der berücksichtigten Versehen auf das gleiche Ergebnis hinaus.
In Bedingung Versehen 1 muss der VN das Versehen beweisen, bei Bedingung Versehen 2 muss dagegen der VR nachweisen, dass kein Versehen vorlag. Insoweit beinhalten die Regelungen bereits Grundgedanken des VVG n.F. (vgl. Rn 58 ff.).
Rz. 49
Erfolgt die Meldung vorsätzlich oder grob fahrlässig verspätet, so ist die Versehensklausel nicht anwendbar, da kein Versehen vorliegt, wenn die VP bzw. der VN erkannt hat oder hätte erkennen müssen, dass eine Leistungspflicht des VR besteht. Die Obliegenheitsverletzung unterliegt in diesen Fällen den allgemeinen Regelungen (vgl. Rn 58 ff.).
Rz. 50
Eine zeitliche Grenze für den folgenlosen Einwand eines Versehens benennen die Musterbedingungen zwar nicht, man wird aber als spätesten Zeitpunkt den Eintritt der Verjährung annehmen müssen.
Rz. 51
Beispiel Versehensklausel 1
Der VN stürzt vom Fahrrad und fällt auf den linken Arm. Da er den Arm frei bewegen kann, geht er zunächst nur von Prellungen aus. Die Schmerzen gehen in den folgenden Tagen auch zurück, so dass er keinen Arzt aufsucht. Vier Wochen nach dem Unfall bestehen immer noch Schmerzen und es hat sich eine Einschränkung der Beweglichkeit eingestellt. Der Arzt stellt eine Knochenabsplitterung am Ellenbogen fest. Erst jetzt meldet der VN den Schaden beim VR.
Hier greifen beide Versehensklauseln ein.
Beispiel Versehensklausel 2
Der VN stürzt, wodurch seine Schneidezähne beschädigt werden. Zähne sind über die Leistungsart Kosmetische Operation versichert. Der VN lässt sich die Zähne erneuern und zahlt dem Arzt auch seinen Eigenanteil an den Kosten. Acht Monate nach dem Unfall und sechs Monate nach der Begleichung der Rechnung meldet er den Unfall beim VR.
In diesem Fall greifen die Versehensklauseln nicht. Die Voraussetzung der Musterbedingung Versehen 1 liegt nicht vor, da bei einer prothetischen Zahnbehandlung keine zunächst nur geringfügige Verletzung vorliegt, vielmehr die Verletzung sofort im voll zu überblickenden Umfang vorhanden war und behandelt wurde.
Nach der Musterbedingung Versehen 2 reicht zwar grundsätzlich eine versehentliche Nichtmeldung, allerdings muss ein verständiger VN spätestens bei Erhalt der Zahnarztrechnung erkennen, dass eine Leistungspflicht des VR begründet ist und er einen solchen Schaden zu melden hat.