Hilmar Stobbe, Dr. Jens Tietgens
Rz. 90
Während es sich bei den zuvor behandelten Heilbehandlungskosten um vorübergehende Aufwendungen bis zur Wiederherstellung der vollen Gesundheit des Geschädigten handelt, stellen vermehrte Bedürfnisse unfallbedingte Mehraufwendungen zum Ausgleich von Nachteilen dar, die aufgrund einer dauernden Beeinträchtigung des Wohlbefindens erforderlich werden. Es muss sich um Mehraufwendungen handeln, die dauernd und regelmäßig erforderlich sind. Sie dürften nicht der Wiederherstellung der Gesundheit dienen, also nicht unter die Heilbehandlungskosten fallen. Nicht umfasst sind außerdem allgemeine Lebenshaltungskosten. § 843 Abs. 1 BGB betrifft nur den Aufwand, den ein Geschädigter im Vergleich zu einem gesunden Menschen als Mehraufwand hat. Abzugrenzen ist ferner, was der Wiederherstellung der Lebensqualität dient und deswegen zum immateriellen Schaden zählt.
Rz. 91
Bei schwerwiegenden Personenschäden können die vermehrten Bedürfnisse zahllose Schadenspositionen umfassen, die den gesamten Lebensbereich des Geschädigten betreffen. Der anwaltliche Vertreter muss den Mandanten deshalb frühzeitig darauf hinweisen, dass sämtliche Schadenspositionen exakt und fortlaufend dokumentiert werden müssen.
Rz. 92
Als Schadenspositionen der vermehrten Bedürfnisse kommen u.a. in Betracht:
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laufende Ausgaben für eine bessere Verpflegung; |
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Erneuerung dauerhaft erforderlicher künstlicher Gliedmaßen; |
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Aufwand für Pflegepersonal; |
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Kleidermehrbedarf: Zu prüfen ist allerdings, ob ein durch die Unfallfolgen verursachter Mehrbedarf (z.B. für Rollstuhlfahrer) durch einen unfallbedingt eingesparten Minderbedarf kompensiert wird; |
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orthopädisches Schuhwerk; |
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Mehraufwendungen für eine Wohnung an einem anderen Ort; |
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unfallbedingt gesteigerte Betriebskosten für die Unterkunft; |
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unfallbedingter Mehrbedarf für Mobiliar; |
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Umrüstung eines Pkw oder Mehrkosten beim Erwerb; die Kosten für den behindertengerechten Umbau eines Motorrades sind hingegen nicht als vermehrte Bedürfnisse zu qualifizieren, wenn das Mobilitätsbedürfnis des Geschädigten bereits durch einen behindertengerecht ausgerüsteten Pkw erfüllt wurde; |
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erhöhte Ausbildungskosten; |
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Kurkosten; |
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Mehrkosten für Begleitpersonen während einer Urlaubsreise); allerdings kommt die Zuerkennung einer Rente für potentielle und zukünftige Urlaubsmehrkosten grundsätzlich nicht Betracht. Erforderlich ist vielmehr ein tatsächlich unfallbedingt entstandener und vom Geschädigten nachgewiesener Mehrbedarf; |
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Unfallbedingte und medizinisch erforderliche Anschaffung eines Hundes. |
Rz. 93
Für vermehrte Bedürfnisse besteht in § 843 BGB eine besondere gesetzliche Regelung. Danach besitzt der Geschädigte u.U. einen Anspruch auf eine Geldrente, die gemäß § 843 Abs. 3 BGB auch kapitalisierungsfähig ist, wenn ein wichtiger Grund dafür vorliegt.
Rz. 94
Ist der Geschädigte ein Dauerpflegefall, gebührt ihm ein Anspruch auf Ausgleich des Pflegeaufwandes. Soweit die Pflege professionell erbracht wurde, ist der konkret angefallene Kostenbetrag zu ersetzen. In der Praxis werden die Pflegeleistungen häufig von nahen Angehörigen erbracht. Auch wenn derartige Pflegeleistungen einer sittlichen Anstandspflicht entsprechen, führt dies nicht zu einer Entlastung des Schädigers. Nach der Rechtsprechung des BGH liegt die Bestimmung der Höhe eines Pflegegeldes im tatrichterlichen Ermessen. Die Höhe des zu ersetzenden Mehrbedarfs bei häuslicher Pflege ist allerdings dadurch begrenzt, dass die Aufwendungen zu ersetzen sind, die durch eine von dem Geschädigten gewählte und ihm in seiner besonderen Lage zumutbare Lebensgestaltung notwendig werden. Nicht ersatzfähig sind dagegen solche Kosten, die in keinem vertretbaren Verhältnis mehr zur Qualität der Versorgung des Geschädigten stehen. Während bei professionellen Pflegekräften die Brutto-Kosten in den Grenzen der Erforderlichkeit und Schadenminderungspflicht zu erstatten sind, kann bei der kostenlosen, meist familiären Pflege nur ein fiktiver Nettolohn einer vergleichbaren Hilfskraft gefordert werden. Der Stundensatz kann wie bei der Berechnung des Haushaltsführungsschadens (siehe Rdn 140) angenommen werden. Eine Grundlage für die Schätzung des angemessenen Stundensatzes kann der jeweilige Mindestlohn sein. Auch im Rahmen dieser Betrachtung muss jedoch berücksichtigt werden, dass es sich beim Mindestlohn um den Bruttolohn handelt. Der Mindestlohn beträgt seit dem 1.1.2018 10,55 EUR. Hieraus leitet ein Teil der Rechtsprechung eine Netto-Vergütung von 8,00 EUR her. Bei Schwerverletzten muss im Rahmen der Pflege durch nahe Angehörige überdies zwischen Zeiten aktiver Pflege und Zeiten passiver Bereitschaft unterschieden werden. Hierfür wird ein Betrag von netto 6,00 EUR pro Stunde für angemessen erachtet.
Rz. 95
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Muster 9.22: Pflege durch nahe Angehörige
_________________________ Versicherung AG
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