Dr. iur. Holger Bremenkamp, Dr. Fernanda Bremenkamp
Rz. 51
Häufig lässt sich nicht aufklären, wie, wann und weshalb es zu einem Produktfehler kam und ob dieser die Rechtsgutverletzung verursacht hat. In diesen Fällen ist die Verteilung der Beweislast streitentscheidend.
Rz. 52
Nach den allgemeinen deliktsrechtlichen Grundsätzen hat der Geschädigte an sich sämtliche Haftungsvoraussetzungen zu beweisen. Die für den außenstehenden Laien meist schwer überschaubaren Zusammenhänge und Abläufe des Produktionsprozesses und sein fehlender Einblick in die Herstellersphäre führen jedoch zu erheblichen Schwierigkeiten bei der Beweisführung. Dieser Beweisnot des Geschädigten hat der BGH im Hühnerpestfall Rechnung getragen und im Bereich der Produkthaftung die Beweislastverteilung zugunsten des Geschädigten verändert: Wird bei bestimmungsgemäßer Verwendung eines Produkts eine Person oder eine Sache dadurch geschädigt, dass das Erzeugnis mit einem auf den Organisations- und Gefahrenbereich des Herstellers zurückzuführenden Fehler behaftet war, muss der Hersteller darlegen und beweisen, dass ihm hinsichtlich des Fehlers kein Pflichtverstoß oder kein Verschulden zur Last fällt. Da an den Hersteller in der Rechtsprechung sehr strenge Sorgfaltsmaßstäbe angelegt werden, hat diese Beweislastverteilung zu einer weitgehenden Annäherung der deliktsrechtlichen Haftung des Herstellers an eine Gefährdungshaftung geführt.
Rz. 53
Der Anwendungsbereich der richterrechtlich entwickelten Beweislastgrundsätze erstreckt sich – mit jeweils vom Anspruch gegen das Unternehmen unabhängigen Verjährungsvoraussetzungen – auf leitende Mitarbeiter des Herstellungsunternehmens, soweit sie aufgrund ihrer besonderen Stellung im Betrieb als "Repräsentanten des Unternehmens" anzusehen sind. Das gilt nicht nur für Industriebetriebe, sondern auch für Kleinbetriebe.
1. Fehlerbereichsnachweis
Rz. 54
Dem Geschädigten obliegt es zu beweisen, dass eine Rechtsgutverletzung eingetreten ist, die auf einen Fehler des Produkts zurückzuführen ist, und dass dieser Fehler aus dem Herrschafts- und Verantwortungsbereich des Herstellers stammt.
Rz. 55
Hierbei können Beweiserleichterungen zugunsten des Verletzten eingreifen: Handelt es sich bei dem Schaden um die typische Folge eines Produktmangels, kommt ein Anscheinsbeweis für das Vorliegen eines Produktfehlers und dessen Schadensursächlichkeit in Betracht. Es muss nach der allgemeinen Lebenserfahrung sehr wahrscheinlich sein, dass der Produktfehler Ursache des Schadens war. Die Grundsätze des Anscheinsbeweises können auch anwendbar sein, wenn ein Produkt – entgegen seiner Bestimmung – bereits nach kurzer Benutzungszeit schadhaft wird und dadurch eine Rechtsgutverletzung eintritt. Bleibt hingegen offen, ob der Schaden auf einem Produktmangel oder vielmehr auf der unsachgemäßen Verwendung bzw. einer Veränderung des Produkts nach Inverkehrbringen beruht, und könnte mithin der gefahrbringende Zustand auch erst nach dem Verlassen des Herstellungsbetriebs entstanden sein, greift keine Vermutung zugunsten des Geschädigten ein.
Rz. 56
Nur ausnahmsweise tritt eine Beweislastumkehr auch zur Herkunft des Fehlers aus dem Herstellerbereich ein, wenn nämlich der Hersteller gegen eine Befund- bzw. Statussicherungspflicht verstoßen hat. So kann bei Mehrwegflaschen, die aufgrund eines Materialfehlers der Glaswandung explodieren, häufig nicht geklärt werden, ob der Materialfehler bereits vor dem Verlassen des Abfüllbetriebs oder erst danach entstanden war. Wegen des besonderen Risikos schwerer Schäden bei Mehrfachverwendung druckgefüllter Glasflaschen nahm der BGH aber eine Verpflichtung an, jede gebrauchte Mehrwegflasche vor dem Wiederbefüllen auf ihre Berstsicherheit zu prüfen und den Befund in dem Sinne zu sichern, dass alle defekten Produkte ausgesondert werden. Fehlt eine solche "Statussicherung" und wird dadurch die Aufklärung des Ursachenzusammenhangs er...