Dr. Peter Stelmaszczyk, Stefan Wegerhoff
I. Überlegungen zur Rechtsformwahl (Zivilrecht und Steuerrecht)
1. Vorbemerkungen
Rz. 1400
Die Rechtsform der Europäischen Wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV, nachfolgend auch "Vereinigung") geht auf die im Jahr 1967 für die Zusammenarbeit selbstständiger Unternehmen geschaffene französische Rechtsform "groupement d’intérêt économique (GIE)" zurück, welche in der französischen Wirtschaft verbreitet war.
Hinweis
Bekanntere Beispiele für diesen nationalen französischen Vorläufer der EWIV waren der Flugzeugbauer Airbus in Toulouse oder die Weltraumfirma Arianéspace.
Rz. 1401
Die EWIV stellt die Weiterentwicklung der GIE dar und ist im Jahr 1985 durch eine europäische Verordnung (nachfolgend auch "Verordnung" oder "EWIV-VO") auf der Grundlage des heutigen Art. 352 AEUV eingeführt worden. Die Verordnung ist sekundäres Gemeinschaftsrecht und gilt seit dem 1.7.1989 unmittelbar in jedem Mitgliedstaat, sodass die Errichtung einer EWIV seit diesem Zeitpunkt in allen Mitgliedstaaten möglich ist. Neben die bisher 28 Mitgliedstaaten der EU treten diejenigen des Europäischen Wirtschaftsraums, d.h. Island, Norwegen und Liechtenstein. Aus wichtigen Drittstaaten außerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums, wie z.B. aus der Schweiz, den USA oder der GUS, können Mitglieder nur als sog. "assoziierte" Mitglieder in eine EWIV aufgenommen werden.
Hinweis
Die Vereinigung heißt European Economic Interest Grouping (EEIG) in Irland, Groupement Européen d’intérêt économique (GEIE) in Frankreich, Gruppo Europeo di Interesse Economico (GEIE) in Italien, Agrupaciones de Interés Económico (AEIE) in Spanien und Europese Economische Samenwerkingsverbanden (EESV) in den Niederlanden. Das deutsche Ausführungsgesetz (nachfolgend auch: EWIV-AusfG) ist am 1.1.1989 in Kraft getreten.
2. Europaweite Niederlassungsfreiheit
Rz. 1402
Der im Gründungsvertrag genannte Sitz muss in der Gemeinschaft gelegen sein. Als Sitz ist entweder der Ort, an dem die Vereinigung ihre Hauptverwaltung hat, oder der Ort, an dem eines der Mitglieder der Vereinigung seine Hauptverwaltung hat, zu bestimmen. Bei einer natürlichen Person ist dies der Ort, an dem diese ihrer Haupttätigkeit nachgeht, sofern die Vereinigung dort tatsächlich eine Tätigkeit ausübt (Art. 12 EWIV-VO). Der Sitz der Vereinigung kann unter Einhaltung eines bestimmten vorgeschriebenen Verfahrens innerhalb der Gemeinschaft verlegt werden (Art. 13 EWIV-VO). Hat die Sitzverlegung einen Wechsel des auf den Gründungsvertrag und die innere Verfassung der Vereinigung anwendbaren Rechts zur Folge, so ist ein Verlegungsplan zu erstellen und ein bestimmtes Verfahren durchzuführen (Art. 14 EWIV-VO). Die EWIV genießt als erste genuin supranationale europäische Rechtsform seit jeher die Freiheit der freien Standortwahl und -verlegung in Europa, die zwar das auf sie anwendbare Recht ändern, niemals jedoch ihre Existenz berühren kann.
Rz. 1403
Die EWIV wird daher als Rechtsform für solche Vorhaben und Unternehmungen infrage kommen, die nach ihrer Art am besten auf europäischer Ebene durchgeführt werden können. Die Gründer der EWIV können sich als Sitzstaat denjenigen Mitgliedstaat aussuchen, der die für ihr Vorhaben günstigsten rechtlichen Rahmenbedingungen bietet und können den Sitz außerdem im Zuge etwaiger späterer Restrukturierungsvorgänge innerhalb des Gemeinschaftsgebietes verlegen. Ein Gesichtspunkt für die Auswahl des Sitzstaates kann auch dessen Rechtssicherheit, also das Vorhandensein von Rspr. und Lit. zu allen Fragen sein. Insofern treten die Rechtsordnungen in ganz Europa miteinander in den Wettbewerb. Im Zuge der Harmonisierung der nationalen Rechte durch EU-Richtlinien und der einschlägigen Entscheidungen des EuGH sollte allerdings ein "ebenes europäisches Spielfeld" ("level playing field") entstehen, auf dem der Standort eines Unternehmens nicht nach rechtlichen, sondern vorwiegend nach wirtschaftlichen Kriterien ausgesucht wird. Unabhängig von der Wahl des Sitzes kann die EWIV (Zweig-)Niederlassungen auf der ganzen Welt gründen, z.B. in den USA oder in Japan.
3. Anwendbares Recht
Rz. 1404
Zunächst sind auf die EWIV die Bestimmungen der Verordnung anzuwenden. Diese regeln insb. die Gründung und die innere Verfassung der EWIV. Damit ist der Regelungsinhalt der EWIV-VO gering.
Vorbehaltlich der Verordnung ist das innerstaatliche Recht des Staates anzuwenden, in dem die Vereinigung nach dem Gründungsvertrag ihren Sitz hat, und zwar einerseits auf den Gründungsvertrag mit Ausnahme der Fragen, die den Personenstand und die Rechts-, Geschäfts- und Handlungsfähigkeit natürlicher Personen sowie die Rechts- und Handlungsfähigkeit juristischer Personen betreffen, und andererseits auf die innere Verfassung der Vereinigung (Art. 2 Abs. 1 EWIV-VO). Soweit die Verordnung also nicht selbst die Gründung und die innere Verfassung der EWIV regelt, ist insoweit subsidi...