Dr. Holger Niehaus, Detlef Burhoff
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Es gilt ein formeller Aktenbegriff. Aus dem Akteneinsichtsrecht ergibt sich daher kein Recht auf Bildung eines größeren Aktenbestandes. Der Verteidiger kann daher einen Anspruch auf Zurverfügungstellung von Messunterlagen etc., die sich nicht bei der Akte befinden, nicht auf das Recht auf Akteneinsicht stützen. Anspruchsgrundlage ist insoweit vielmehr das Recht auf ein faires Verfahren. |
2. |
Verteidiger, Betroffener, Verletzter und Dritter haben auch die Befugnis, amtlich verwahrte Beweisstücke zu besichtigen. |
Rdn 184
Literaturhinweise:
S. die Hinw. bei → Akteneinsicht, Allgemeines, Rdn 144.
Rdn 185
1.a)aa) Das AER ermöglicht es dem Verteidiger gem. § 147 Abs. 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1, die Akten, welche dem Gericht vorliegen oder diesem im Fall der Erhebung der Anklage vorzulegen wären, einzusehen sowie amtlich verwahrte Beweisstücke zu besichtigen. Es mangelt insoweit an einer Legaldefinition des Begriffs "Akten". Gemäß dem Grundsatz der Aktenvollständigkeit besteht ein Recht des Verteidigers auf AE, das alle Akten und Aktenteile, einschließlich Bild-, Video- und Tonbandaufnahmen umfasst, auf die der Schuldvorwurf in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gestützt wird und die zur Begründung des Ausspruchs über die Rechtsfolgen herangezogen werden (BGH StV 2010, 228; BayObLG NJW 1991, 1070; AG Stuttgart VRR 2012, 83; KK/Kurz, § 60 Rn 97). Diese Schriftstücke, Unterlagen, Bild- und Tonaufnahmen, die für den Betroffenen als belastend oder entlastend von Bedeutung sein könnten, dürfen diesem daher nicht vorenthalten werden, da dies eine Verletzung seines rechtlichen Gehörs bedeuten würde (LG Ellwangen DAR 2011, 418 = VRR 2011, 117 = StRR 2011, 116 für die Einsicht in die Bedienungsanleitung des Geschwindigkeitsmessgerätes; dazu eingehend → Akteneinsicht, Umfang, Messunterlagen, Bedienungsanleitung u.a., Rdn 198 ff.; Burhoff VRR 2011, 250 ff.). Im Ergebnis erstreckt sich damit die AE auf die vollständigen Akten, einschließlich aller verfahrensbezogenen Vorgänge, die zu den Akten genommen wurden (vgl. Burhoff, EV, Rn 486). Dazu gehören nach Auffassung des OLG Düsseldorf (DAR 2007, 398 = NZV 2007, 485 = VRS 113, 120) aber nicht sog. aussageerleichternde Zeugennotizen, wie z.B. Notizen oder Aufzeichnungen eines Polizeibeamten, die es ihm ermöglichen sollen, später über seine Wahrnehmungen auszusagen.
☆ Es ist zwischen dem Recht auf Akteneinsicht und dem Recht auf Offenlegung von Unterlagen, die sich nicht bei der Akte befinden, aber für die Verteidigung von Bedeutung sein könnten (Messunterlagen, Lebensakte des Geschwindigkeitsmessgerätes, Bedienungsanleitung etc.) zu differenzieren ( Cierniak/Niehaus DAR 2014, 2, 3 ff.).Akteneinsicht und dem Recht auf Offenlegung von Unterlagen, die sich nicht bei der Akte befinden, aber für die Verteidigung von Bedeutung sein könnten (Messunterlagen, Lebensakte des Geschwindigkeitsmessgerätes, Bedienungsanleitung etc.) zu differenzieren (Cierniak/Niehaus DAR 2014, 2, 3 ff.).
Im Rahmen des AER gilt ein formeller Aktenbegriff. Daher kann auf diesem Wege Einsicht in alle Unterlagen, die sich bei der Akte befinden, und in solche Unterlagen genommen werden, die mit der Anklage vorzulegen sind (§ 147 Abs. 1, 2. Alt. StPO), also in solche Unterlagen, die nach der Auffassung der Staatsanwaltschaft und des Gerichts von Bedeutung für die Schuld- oder Rechtsfolgenfrage sind – aber eben ausschließlich in diese.
Rdn 186
bb) Will der Verteidiger hingegen Einsicht in andere Unterlagen nehmen, also insbesondere in solche Unterlagen, die er – bzw. ein von ihm ggf. zu beauftragender Privatgutachter – benötigt, um insbesondere die Richtigkeit einer Geschwindigkeitsmessung zu überprüfen (Messunterlagen etc.), so kann er diesen Anspruch nicht mit dem Recht auf Akteneinsicht verfolgen, denn das AER begründet kein Recht auf Erweiterung des Aktenbestandes (Cierniak/Niehaus DAR 2014, 2, 3 m.w.N.). Das bedeutet indes nicht, dass ein solcher Anspruch nicht bestünde. Er ergibt sich nur nicht aus § 147 StPO, sondern aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 EMRK), denn mit der Anerkennung standardisierter Messverfahren und den damit verbundenen Erleichterungen für die Verfolgungsbehörden und das Gericht korrespondiert ein Anspruch der Verteidigung darauf, im Sinne einer Parität des Wissens die Grundlagen dieses standardisierten Verfahrens zu kennen und die Einhaltung ihrer Bedingungen im konkreten Einzelfall überprüfen zu können (Cierniak/Niehaus DAR 2014, 2 und 7; DAR 2018, 541). Denn ein OWi-Verfahren, in dem der Betroffene die Ergebnisse eines Messprozesses hinnehmen müsste, ohne die Grundlagen der Messung zu kennen und diese sowie deren konkrete Anwendung in Frage stellen zu können, wäre kein faires Verfahren i.S.d. Art. 6 EMRK. Dazu benötigt der Verteidiger aber die o.g. Messunterlagen etc., die ihm deshalb von den Verfolgungsbehörden und dem Gericht als den Adressaten des Rechts auf ein faires Verfahren zur Verfügung zu stellen sind, und zwar unabhängig ...