Detlef Burhoff, Thomas Hillenbrand
Rdn 421
Literaturhinweis:
Neuhaus, Der Grundsatz der ständigen Anwesenheit des Angeklagten in der strafprozessualen Hauptverhandlung 1. Instanz unter besonderer Berücksichtigung des § 231a StPO, 2000
Metz, Entfernung des Angeklagten nach § 247 StPO, NStZ 2017, 446
Nestler, Grundlagen der Anwesenheitspflichten während der Hauptverhandlung, Jura 2024, 135
Staub, Verteidigungsstrategien bei Verhinderung des Betroffenen und/oder der Verteidigung zum anberaumten Hauptverhandlungstermin – zugleich Anmerkung zu LG Freiburg, vom 22.8.2022 und LG Koblenz vom 28.12.2022, DAR 2023, 408.
Rdn 422
1.a) Grds. ist der Angeklagte nach § 231 Abs. 1 S. 1 zur ununterbrochenen Anwesenheit während der gesamten HV verpflichtet, was nach § 332 auch für die Berufungshauptverhandlung, gilt (zur Anwesenheitspflicht allgemein Meyer-Goßner/Schmitt, § 230 Rn 2 m.w.N.; BVerfG NJW 2007, 2977, 2979; → Berufung, Berufungshauptverhandlung, Teil B Rdn 748). Deshalb kann der Angeklagte nicht, auch nicht im allseitigen Einverständnis, aus der HV entlassen werden (BGH NJW 1973, 522; NStZ 1991, 296; OLG Celle StV 2017, 810 [Ls.] m. Anm. Burhoff StRR 2/2018, 11; s. aber → Beurlaubung des Angeklagten von der Hauptverhandlung, Teil B Rdn 1008), und er kann auch nicht selbst auf seine Anwesenheit verzichten (BGH, a.a.O.; StV 2003, 373; KK/Diemer, § 247 Rn 3)). Das gilt auch, wenn der Angeklagte der Hauptverhandlung bei geöffneter Tür aus einem Nebenraum folgen konnte (OLG Celle, a.a.O.). In einigen Fällen bestehen allerdings Ausnahmen von der Anwesenheitspflicht. Das gilt, wenn das Verfahren insgesamt in Abwesenheit des ausgebliebenen Angeklagten durchgeführt werden kann (dazu die §§ 232, 233, 329, 350 Abs. 2, 387 Abs. 1, 411 Abs. 2, 412), zeitweilig die Anwesenheit des Angeklagten nicht erforderlich ist (§§ 231 Abs. 2, 231a, 231b) oder wenn unter den Voraussetzungen des § 247 seine Entfernung aus dem Sitzungszimmer angeordnet wird (→ Entfernung des Angeklagten aus der Hauptverhandlung, Teil E Rdn 1796). Im Sicherungsverfahren kann nach § 415 verfahren werden, wenn das Erscheinen des Beschuldigten wegen seines Zustandes unmöglich oder aus Gründen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung unangebracht ist (hier KK/Maur, § 415 Rn 3 f.).
Rdn 423
Eine solche Entfernung des Angeklagten setzt stets einen zu begründenden und zu verkündenden förmlichen Gerichtsbeschluss voraus, auch wenn alle Verfahrensbeteiligten mit der Entfernung einverstanden sind (BGH, Beschl. v. 21.8.2018 – 2 StR 172/18). Besonderheiten gelten im Bußgeldverfahren, zur dort möglichen Entbindung vom persönlichen Erscheinen nach § 73 OWiG → Bußgeldverfahren, Besonderheiten, Anwesenheit des Betroffenen, Teil B Rdn 1543 ff.).
Rdn 424
b) Der Pflicht des Angeklagten zur Anwesenheit entspricht auf der anderen Seite sein Recht auf Anwesenheit in der HV (OLG Karlsruhe StV 1986, 289), das auch dann besteht, wenn er ausnahmsweise (Teil A Rdn 427) nicht zur Anwesenheit verpflichtet ist (BGHSt 28, 35, 37). Das Gericht darf daher dem Angeklagten die Anwesenheit in der HV nicht verbieten, auch wenn es ohne ihn verhandeln könnte (Meyer-Goßner/Schmitt, § 230 Rn 4 m.w.N.); dies ist nur im Ausnahmefall des § 247 möglich. Auch ist der Angeklagte im Falle einer Verhinderung, etwa wegen Krankheit, nicht verpflichtet, sich vertreten zu lassen (BayObLG StV 2001, 339; OLG Stuttgart NStZ-RR 2004, 338; LG Görlitz, Beschl. v. 19.7.2021 – 3 Qs 125/21, StV 2021, 631). Schließlich kann auch keine Einigung über die Anwesenheit des Angeklagten getroffen werden (OLG Celle StV 2017, 810 [Ls.] m. Anm. Burhoff StRR 2/2018, 11; OLG Hamm StV 2007, 571).
Rdn 425
2.a) Nach § 231 Abs. 1 S. 2 kann der Vorsitzende geeignete Maßnahmen treffen, um das Sich-Entfernen des Angeklagten zu verhindern. Zu den zulässigen Maßnahmen gehören die Bewachung durch einen Justizbeamten, ggf. auch, sofern weniger einschneidende Maßnahmen keinen Erfolg versprechen, die → Fesselung des Angeklagten, Teil F Rdn 1912 (BGH NJW 1957, 271; Meyer-Goßner/Schmitt, § 231 Rn 2), wenn die (allgemeinen) Voraussetzungen des § 119 Abs. 1 vorliegen (KK/Gmel/Peterson, § 231 Rn 2; OLG Dresden NStZ 2007, 479).
Rdn 426
Der Vorsitzende kann den Angeklagten nach § 231 Abs. 1 S. 2 während einer → Unterbrechung der Hauptverhandlung, Teil U Rdn 3222, in Gewahrsam nehmen lassen. Das setzt aber voraus, dass ein konkreter Anlass zu der Annahme besteht, der Angeklagte wolle sich der weiteren HV entziehen (zur Beeinträchtigung des Rechts auf angemessene Verteidigung bei grundloser Ingewahrsamnahme BGH NStZ 2004, 637). Die Dauer der Unterbrechung spielt grds. keine Rolle. Der Angeklagte kann daher auch über die Nachtstunden und bei mehrmaliger Unterbrechung der HV mehrmals in Gewahrsam genommen werden (Meyer-Goßner/Schmitt, § 231 Rn 3 m.w.N.). Fraglich ist, ob das auch für eine länger andauernde, ggf. sogar mehrtägige Unterbrechung gilt oder ob dann nicht nach den §§ 112 ff. der Erlass eines HB geprüft werden muss (so OLG Frankfurt am Main NStZ-RR 2003, 329; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O.; KK...