Detlef Burhoff, Thomas Hillenbrand
Rdn 618
Literaturhinweis:
Christl, Europäische Mindeststandards für Beschuldigtenrechte – Zur Umsetzung der EU-Richtlinien über Sprachmittlung und Information im Strafverfahren, NStZ 2014, 376
Deutscher, Neue Regelungen zum Opferschutz und zur Stärkung der Beschuldigtenrechte im Strafverfahren, StRR 2013, 324
Kotz, Anspruch des sprachunkundigen Angeklagten auf schriftliche Übersetzung verfahrenswesentlicher Unterlagen (§ 187 Abs. 2 GVG), StRR 2014, 364
Makepeace, Ein Beschuldigter zweiter Klasse Zur Umsetzung der Richtlinie 2010/64/EU über das Recht auf Dolmetscherleistungen und Übersetzungen im Strafverfahren, StV 2020, 570
A. Schneider, Der Anspruch des Beschuldigten auf schriftliche Übersetzung wesentlicher Unterlagen, StV 2015, 379.
Rdn 619
1. Nach § 201 Abs. 1 S. 1 muss dem Angeschuldigten die Anklageschrift mitgeteilt werden (zur Mitteilung der Anklageschrift mit Setzung einer Erklärungsfrist Burhoff, EV, Rn 2365). Das dient der Gewährung rechtlichen Gehörs, um dem Angeschuldigten genügend Informationen zur Vorbereitung seiner Verteidigung zu geben. Das ist inzwischen seit 2013 durch das "Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren" grds. in § 187 Abs. 2 S. 1 GVG geregelt (OLG Nürnberg NStZ-RR 2014, 183; zur Neuregelung BGH NStZ 2014, 725 m. Anm. Deutscher StRR 2014, 363; NStZ 2017, 63 m. Anm. Arnoldi StRR 5/2016, 10; LG Kiel StV 2016, 485; Deutscher StRR 2013, 324; Kotz StRR 2014, 364; Christl NStZ 2014, 376; A. Schneider StV 2015, 379).
Rdn 620
2.a) Einem ausländischen Angeschuldigten muss die Anklageschrift daher grds. mit einer Übersetzung in eine ihm verständliche Sprache vor der HV mitgeteilt werden (auch BGH NStZ 2014, 725 m. Anm. Deutscher StRR 2014, 386; NStZ 2017, 63 m. Anm. Arnoldi StRR 5/2016, 10; OLG Düsseldorf StV 2001, 498; 2010, 512; OLG Hamm StV 2004, 364; OLG Stuttgart StV 2003, 490; Meyer-Goßner/Schmitt, § 187 GVG Rn 3 u. Art. 6 EMRK Rn 18; LR-Stuckenberg, § 202 Rn 18; auch A. Schneider StV 2015, 386; a.A. – zum früheren Recht – offenbar OLG Celle StraFo 2005, 30 m. Anm. Rübenstahl StraFo 2005, 30). Das ist i.d.R. zwingend (zur Übersetzung der Anklageschrift Burhoff, EV, Rn 599). Nach Auffassung des OLG Nürnberg (OLG Nürnberg NStZ-RR 2014, 183) soll es aber dann, wenn Angeklagte durch einen sprachkundigen (Wahl)Verteidiger vertreten wird, gem. § 187 Abs. 2 S. 4 u. S. 5 GVG nach den Umständen des Einzelfalls ggf. genügen und es dann keiner schriftlichen Übersetzung der Anklageschrift bedürfen. Nach Auffassung des OLG Karlsruhe (StV 2002, 299) liegt in den Fällen, in denen die Übersetzung unterlassen wurde, ein Fall der notwendigen Verteidigung vor (aber OLG Nürnberg, a.a.O., das davon ausgeht, dass die Rechte des Beschuldigten auf Ausgleich der mit den sprachbedingten Verständigungsschwierigkeiten einhergehenden Beschränkungen durch die neu gefasste Vorschrift des § 187 GVG hinreichend gewahrt werden; s.a. noch BGH NStZ 2017, 601 unter Hinw. darauf, dass EUGH NJW 2016, 303 nur für den nicht verteidigten Beschuldigten gilt).
Rdn 621
b) Diese Mitteilung der Anklageschrift kann nicht durch deren Verlesung in der HV ersetzt werden (BGH NStZ 2017, 63; wohl auch, aber letztlich offen gelassen, BGH NStZ 2014, 725 m. Anm. Deutscher StRR 2014, 386; OLG Celle StV 1998, 531). Bei einem ausländischen Angeklagten bedeutet dies, dass eine Übersetzung der Anklageschrift in der HV durch einen dort anwesenden Dolmetscher i.d.R. nicht ausreicht (OLG Hamburg StV 2006, 175, 177; auch A. Schneider StV 2015, 386). Das OLG Düsseldorf (NJW 2003, 2766) sieht aber dann einen Ausnahmefall als gegeben an, wenn es sich um einen leicht verständlichen und überschaubaren Sachverhalt handelt (s.a. Meyer-Goßner/Schmitt, Art. 6 MRK Rn 18; dazu a. BGH NStZ 2017, 63). Das OLG Hamm (StV 2004, 364) geht demgegenüber davon aus, dass auch in diesen Fällen die Anklageschrift regelmäßig vor der HV übersetzt werden muss (s.a. OLG Frankfurt am Main StV 2008, 291; OLG Karlsruhe StV 2005, 655; Rübenstahl StraFo 2005, 30, 32 in der Anm. zu OLG Celle StraFo 2005, 30; aber a. BVerfG NJW 2004, 1443, wonach es ausreichen soll, wenn dem des Lesens Kundigen eine schriftliche Übersetzung [in der HV] überlassen wird).
☆ Allerdings kann die nicht erfolgte Übersetzung durch Bestellung eines Pflichtverteidigers ausgeglichen werden (OLG Karlsruhe StV 2002, 299; a.A. LG Tübingen, Beschl. v. 4.8.2010 – 3 Qs 30/10 [keine Beiordnung, da der Angeklagte in der HV über die Möglichkeit der Aussetzung zu belehren sei]; zu Pflichtverteidigung bei einem Ausländer Burhoff , EV, Rn 3492; s.a. noch → Zuziehung eines Dolmetschers , Teil Z Rdn 4429 ).Pflichtverteidigers ausgeglichen werden (OLG Karlsruhe StV 2002, 299; a.A. LG Tübingen, Beschl. v. 4.8.2010 – 3 Qs 30/10 [keine Beiordnung, da der Angeklagte in der HV über die Möglichkeit der Aussetzung zu belehren sei]; zu Pflichtverteidigung bei einem Ausländer Burhoff, EV, Rn 3492; s.a. noch → Zuziehung eines Dolmetschers, Teil Z Rdn 4429).
Rdn 622
3. Es ist deshalb allgemein anerkannt...