Detlef Burhoff, Michael Eggers
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Die Vortätigkeit des Richters ist, wenn sie das Gesetz nicht ausdrücklich zu einem Ausschließungsgrund nach den §§ 22, 23 erhoben hat, grds. kein Ablehnungsgrund, sofern zu ihr nicht besondere Umstände hinzukommen, die die Besorgnis der Befangenheit begründen. |
2. |
Die Rspr. des EGMR sieht hingegen in den Fällen typischer Vorbefassung oder Vorbefassung in anderer Funktion regelmäßig einen Ablehnungsgrund. |
3. |
Auch zu dem Ablehnungsgrund "Vorbefassung" liegt umfangreiche Rechtsprechung vor. |
Rdn 49
Literaturhinweise:
S.a. die Hinw. bei → Ablehnung eines Richters, Allgemeines, Teil A Rdn 2, und bei → Ablehnungsgründe, Befangenheit, Allgemeines, Teil A Rdn 17.
Rdn 50
1. Die Vortätigkeit/Vorbefassung des Richters mit oder in dem Verfahren ist, wenn sie das Gesetz nicht ausdrücklich zu einem Ausschließungsgrund nach den §§ 22, 23 erhoben hat, nach h.M. grds. kein Ablehnungsgrund, sofern nicht besondere Umstände hinzukommen, die die Besorgnis der Befangenheit begründen (u.a. BGHSt 24, 336; BGH NJW 2009, 1287 [Ls.]; NStZ 2012, 519; 2014, 660 m. Anm. Hillenbrand StRR 2014, 444; NStZ 2016, 357; Beschl. v. 7.6.2022 – 5 StR 460/21, NStZ 2023, 53; StraFo 2016, 289; Beschl. v. 19.4.2018 – 3 StR 23/18, StraFo 2018, 429 m. Anm. Burhoff StRR 9/2018, 10 [Revisionsverfahren]; Beschl. v. 31.1.2023 – 4 StR 67/22 StraFo 2023, 314; NStZ-RR 2018, 252 [Revisionsverfahren]; Beschl. v. 14.11.2023 – 4 StR 239/23, NStZ-RR 2024, 24; Beschl. v. 9.1.2018 – 1 StR 571/17; OLG Köln, Beschl. v. 8.4.2013 – 2 Ws 204/13; OLG Oldenburg, Beschl. v. 30.10.2020, 1 Ws 362/20, StraFo 2021, 21; s. aber Stange/Rilinger StV 2005, 579, die für atypische Vorentscheidungen von Befangenheit ausgehen). Erforderlich ist eine Gesamtschau (BGH NStZ 2012, 519; BGH, Beschl. v. 28.2.2018 – 2 StR 234/16, NStZ 2018, 483 m. Anm. Ventzke; zur "Vorbefassung" als Ausschlussgrund nach § 22 → Ausschluss eines Richters, Teil A Rdn 824 ff. und OLG Oldenburg, Beschl. v. 14.5.2020 – 1 Ws 140/20, StraFo 2021, 21 m. Anm. Deutscher StRR 11/2020, 19; zu allem eingehend Boe HRRS 2022, 151; Mosbacher NStZ 2022, 641 ff.; Tüz StraFo 2023, 308). Diese Rspr. ist vom BVerfG nicht beanstandet worden (zuletzt BVerfG, Beschl. v. 27.1.2023 – 2 BvR 1122/22, NStZ 2023, 627 [Cum-Ex]).
☆ Den Ablehnungsgrund der Vorbefassung muss der Verteidiger schon sorgfältig bei der → Vorbereitung der Hauptverhandlung , Teil V Rdn 5443 , und nicht erst in der HV prüfen. Dabei sollte er auf die von der innerstaatlichen Rspr. abweichende Auffassung des EGMR hinweisen und auch die Frage der innerstaatlichen Bindungswirkung der Rspr. des EGMR thematisieren (dazu zuletzt BVerfG NJW 2004, 3407, sowie BVerfG NJW 1986, 1425 [unmittelbar geltendes Völkerrecht, auf das sich jedermann berufen kann]; dazu auch Meyer-Mews , Richterliche Befangenheit, S. 45 f. m.w.N.)."Vorbefassung" muss der Verteidiger schon sorgfältig bei der → Vorbereitung der Hauptverhandlung, Teil V Rdn 5443, und nicht erst in der HV prüfen. Dabei sollte er auf die von der innerstaatlichen Rspr. abweichende Auffassung des EGMR hinweisen und auch die Frage der innerstaatlichen Bindungswirkung der Rspr. des EGMR thematisieren (dazu zuletzt BVerfG NJW 2004, 3407, sowie BVerfG NJW 1986, 1425 [unmittelbar geltendes Völkerrecht, auf das sich jedermann berufen kann]; dazu auch Meyer-Mews, Richterliche Befangenheit, S. 45 f. m.w.N.).
Rdn 51
2.a) Die Rspr. des EGMR sieht hingegen in den Fällen typischer Vorbefassung oder Vorbefassung in anderer Funktion regelmäßig einen Ablehnungsgrund (u.a. EGMR, Urt. v. 16.2.2021 – 1128/17, NJW 2021, 2947 [Aufhebung von BGH StraFo 2016, 289] m. Anm. Euler StV 2022, 273 und Boe HRRS 2022, 151; eingehend Meyer-Mews, Richterliche Befangenheit, S. 42 ff.; Tüz StraFo 2023, 308, 309 ff.; Sauer NJW 2024, 931; s.a. EGMR NJW 2011, 3633 [allein die Tatsache, dass ein Richter bereits über ähnliche Strafvorwürfe in einem gesonderten Verfahren entschieden hat [hier: Verfahren gegen Drogenhändler], reicht nicht aus, Zweifel an seiner Unparteilichkeit in einem darauf folgenden Verfahren gegen einen seiner Kunden zu begründen]; ähnlich EGMR, Beschl. v. 25.11.2021 – 63703/19 und dazu BGH, Beschl. v. 18.5.2022 – 3 StR 181/21, NStZ 2023, 168; s.a. noch OLG Oldenburg, Beschl. v. 10.6.2022 – 1 Ws 203 + 204/22, NJW 2022, 2631 m. Anm. Weigend StV 2023, 511). Das gilt insbesondere auch für die Beteiligung an (Haft-)Zwischenentscheidungen (dazu EGMR EuGRZ 1985, 301; 1993, 122; zur Begründung der EGMR-Beschwerde EGMR NJW 2007, 3553; zur Begründung eines Wiederaufnahmeantrags – nach erfolgreicher – EGMR-Beschwerde BVerfG, Beschl. v. 4.12.2023 – 2 BvR 1699/22, der den die Wideraufnahme ablehnenden Beschluss des OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 8.7.2022 – 1 Ws 21/22, aufgehoben ha; dazu Sauer NJW 2024, 931).
Rdn 52
3. Zum Ablehnungsgrund "Vorbefassung" (zur Begründung eines entsprechenden Antrags Beschl. v. 23.1.2019 – 5 StR 143/18, StraFo 2019, 277 [Ablehnung eines Beweisantrages]) ist hinzuweisen auf folgende von der innerstaa...