Entscheidungsstichwort (Thema)
Nemo tenetur
Leitsatz (amtlich)
Der nemo tenetur-Grundsatz verbietet es, ein Schweigen des Betroffenen in der Hauptverhandlung in OWi-Sachen als Betrug, ggf. durch Unterlassen, zu Lasten der Staatskasse im Hinblick auf Kosten und Gebühren des Verfahrens auszulegen.
Normenkette
StGB §§ 263, 27; OWiG § 46; StPO §§ 136, 243
Tenor
Die Angeklagten werden freigesprochen.
Die Kosten des Verfahrens und ihre notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.
Gründe
I.
Dem Angeklagten L sen. ist durch Strafbefehl des Amtsgerichts Aachen vom 03.12.2010, AZ: 450 Cs 315/10, vorgeworfen worden, am 19.02.2010 in Aachen in der Absicht, sich und einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch beschädigt zu haben, dass er durch Vorspiegelung falscher Tatsachen einen Irrtum erregte.
Der Anklagesatz lautet weiter wie folgt:
"An dem genannten Tattage erschien der Angeklagte in der Bußgeldsache 508 Js 2188/09 OWi StA Aachen vor dem Amtsgericht Aachen zu der gegen seinen gleichnamigen Sohn L, geb. am 00.00.1986, wegen des Verdachts einer Verkehrsordnungswidrigkeit anberaumten Hauptverhandlung und gab sich bewusst wahrheitswidrig als Betroffener aus, um unter Hinweis auf sein Alter und das von seinem Sohn abweichende Aussehen zu dessen Gunsten einen Freispruch zu erwirken. Das Amtsgericht unterlag dieser Täuschung und sprach - dem vorgefassten Tatplan des Angeklagten entsprechend - ihn frei und legte die Kosten des Verfahrens und die Auslagen des Angeklagten der Staatskasse auf. Dieses Verhalten führte zu einer schadensgleichen Vermögensgefährdung hinsichtlich der Gebühren und Auslagen der Bußgeldstelle. Zudem stellte sein Verteidiger mit seiner Billigung gegenüber dem Amtsgericht Aachen seine Gebühren und Auslagen in Rechnung, obwohl - wie dem Angeklagten bewusst war - ein entsprechender Erstattungsanspruch objektiv nicht bestand."
Dem Angeklagten T ist durch Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Aachen vom 11.03.2011, AZ: 507 Js 2249/10, vorgeworfen worden, dem Angeklagten L sen. zu der oben dargestellten Tat Beihilfe geleistet zu haben. Die Konkretisierung lautet insoweit wie folgt:
"Der als Rechtsanwalt in B tätige Angeklagte nahm am 19.02.2010 in der Bußgeldsache 508 Js 2188/09 OWi StA Aachen vor dem Amtsgericht Aachen zu der gegen L, geb. am 00.00.1986, wegen des Verdachts einer Verkehrsordnungswidrigkeit anberaumten Hauptverhandlung als Verteidiger teil. Zu dieser Hauptverhandlung erschien indes, wie dem Angeklagten bewusst war, nicht der Betroffene selbst, sondern dessen gleichnamiger Vater L, geb. am 00.00.1956, der sich bewusst wahrheitswidrig als Betroffener ausgab, um unter Hinweis auf sein Alter und das von seinem Sohn abweichende Aussehen zu dessen Gunsten einen Freispruch zu erwirken. Das Amtsgericht unterlag dieser Täuschung und sprach - dem vorgefassten Tatplan des gesondert Verfolgten L sen. sowie dem Antrag und der Mitwirkung des Angeklagten entsprechend - den Betroffenen frei und legte die Kosten des Verfahrens und die Auslagen des Betroffenen der Staatskasse auf. Dieses Verhalten führte zu einer schadensgleichen Vermögensgefährdung hinsichtlich der Gebühren und Auslagen der Bußgeldstelle. Zudem stellte der Angeklagte gegenüber dem Amtsgericht Aachen seine Gebühren und Auslagen in Rechnung, obwohl ihm bewusst war, dass ein entsprechender Erstattungsanspruch objektiv nicht bestand."
§§ 263 Abs. 1, 27 Abs. 1 StGB
II.
Der Angeklagte L hat sich zur Sache und zur Person nicht eingelassen.
Der Angeklagte T hat sich wie folgt eingelassen:
Er habe gegen den Bußgeldbescheid Einspruch eingelegt, weil sich aus diesem ergeben habe, dass sich der Angeklagte 10 cm vor der Haltelinie befunden habe. Vor dem Sitzungssaal habe er dann Herrn L sen. getroffen, den er aus der Schulzeit kenne. Dieser habe nicht gewusst, warum er die Ladung zum OWi-HVT am 19.02.2010 erhalten habe. Der Angeklagte T habe ihm dann kurz erklärt, dass es um einen Rotlichtverstoß gehe. In der Verhandlung habe dann Herr L lediglich seine Personalien angegeben, zur Sache jedoch keine Angaben gemacht. Sodann habe der Vorsitzende, Herr Richter F, festgestellt, dass wohl aufgrund des anders lautenden Geburtsdatums etwas im Bußgeldbescheid falsch gelaufen sei. Auch die Zeugin habe ausgesagt, dass es sich bei dem Betroffenen nicht um den anwesenden Herrn L sen. gehandelt habe. Somit hätten sich bereits zwei Ungereimtheiten (Abstand zur Haltelinie und Geburtsdatum) in der Bußgeldakte befunden, weshalb er auf Freispruch plädiert habe. Bezüglich dieses Bußgeldverfahrens habe er zu keinem Zeitpunkt mit dem Angeklagten zu 1. oder seinem Sohn telefoniert. Zu dieser Zeit habe er die Anwaltskanzlei gewechselt und jede Menge zu tun gehabt. Zwar habe er den Angeklagten in der Vergangenheit bereits in einem Ehescheidungsverfahren, darüber hinaus auch bereits den Sohn des Angeklagten, Herrn L jun. vertreten. Jedoch habe er keine Gedanken daran verschwendet, ob das Geburtsdatum im Bußgeldbescheid richtig oder fal...