Leitsatz
Werden von der Staatsanwaltschaft mehrere Ermittlungsverfahren eingeleitet und unter verschiedenen Aktenzeichen eingetragen, so handelt es sich bei jedem Ermittlungsverfahren um eine eigene Angelegenheit i.S.d. § 15 RVG. Ob zu diesem Zeitpunkt bereits die Absicht bestand, die Verfahren später miteinander zu verbinden, ist unerheblich.
AG Braunschweig, Beschl. v. 12.4.2009 – Ls 107 Js 12316/08
I. Der Fall
Gegen den späteren Angeklagten waren insgesamt 27 Ermittlungsverfahren geführt worden, die jeweils unter gesonderten Aktenzeichen bei der Staatsanwaltschaft eingetragen worden waren. Der spätere Pflichtverteidiger hatte sich in sämtlichen Verfahren bestellt. Später wurden die Verfahren zum Teil miteinander verbunden, und zwar zu insgesamt sieben verschiedenen Verfahren. Nach Abschluss der Verfahren rechnete der Pflichtverteidiger insgesamt 27 Grundgebühren ab. Der Urkundsbeamte setzte jedoch nur sieben Grundgebühren fest, da die einzelnen Verfahren später zu sieben Verfahren verbunden worden seien und dies von Anfang an auch so beabsichtigt gewesen sei.
Die vom Pflichtverteidiger erhobene Erinnerung hatte Erfolg.
II. Die Entscheidung
Mehrere Verfahren, solange keine Verbindung vorgenommen
Das Gericht schließt sich der Auffassung an, dass hier ursprünglich 27 Rechtsfälle gegeben waren. Die Absicht, diese später zu verbinden, ist irrelevant, zumal der Verteidiger im Vorfeld nicht wissen kann, ob und welche einzelnen Verfahren verbunden werden. Es handelt sich vielmehr so lange um einen eigenen Rechtsfall, wie die Verfahren nicht miteinander verbunden sind.
Die bloße Absicht zu verbinden ist unbeachtlich
Durch die bloße Absicht der Staatsanwaltschaft, die Verfahren miteinander zu verbinden, können aus 27 geführten Einzelverfahren nicht plötzlich nur noch sieben Verfahren werden. Dies erscheint insbesondere auch deshalb nicht sachgerecht, weil der Verteidiger im Vorfeld bereits unter den jeweils aufgeführten Aktenzeichen gesondert Akteneinsicht genommen und Besprechungstermine mit dem Beschuldigten abgehalten hatte. Festzusetzen waren daher insgesamt 27 Grundgebühren.
III. Der Praxistipp
Die Entscheidung ist zutreffend. Ob eine oder mehrere Angelegenheiten vorliegen, ergibt sich daraus, ob ein oder mehrere Ermittlungsverfahren geführt werden. Das wiederum ergibt sich daraus, ob die Ermittlungen bei der Staatsanwaltschaft unter verschiedenen oder unter demselben Aktenzeichen geführt werden.
Vor Verbindung entstandene Grundgebühr kann nicht mehr entfallen
Bis zu einer Verbindung ist jedes Verfahren eine einzelne Angelegenheit i.S.d. § 15 RVG. Nach Verbindung liegt dagegen nur eine Angelegenheit vor. Mehrere vor Verbindung einmal entstandene Grundgebühren können daher infolge einer Verfahrensverbindung nicht nachträglich entfallen oder zu einer Grundgebühr verschmelzen. Sie bleiben vielmehr bestehen (AG Tiergarten AGS 2010, 133 = RVGreport 2010, 18 = StRR 2010, 120 = VRR 2010, 120; LG Hamburg AGS 2008, 545). Wird der Verteidiger dagegen erst nach Verbindung beauftragt, kann die Grundgebühr nur einmal entstehen (AnwK-RVG/N. Schneider, Nrn. 4104, 4105 VV Rn 22 ff.; Burhoff, Nr. 4104 VV Rn 19 ff.).
Trennung lässt keine neue Grundgebühr entstehen
Ebenso verhält es sich mit einer Trennung. Bis zu einer Trennung des Verfahrens liegt nur eine einzige Angelegenheit vor. Nach Abtrennung eines Verfahrens sind mehrere Angelegenheiten gegeben. Hier entsteht die Grundgebühr aber nur einmal (AnwK-RVG/N. Schneider, Nrn. 4100 VV Rn 10, 11; Burhoff, Nr. 4100 Rn 27 ff.). Sie kann infolge einer Trennung nicht erneut entstehen, da nach einer Verfahrenstrennung keine neue Einarbeitung erforderlich ist.
Beispiel 1: Verbindung zweier Ermittlungsverfahren
Gegen den Mandanten wird wegen des Verdachts eines Betruges (Az. 1/10) und wegen des Verdachts eines Diebstahls (Az. 2/10) zunächst getrennt ermittelt. Später werden beide Verfahren verbunden (führend ist das Verfahren 2/10). Anschließend wird das Verfahren unter Mitwirkung des Verteidigers eingestellt.
Bis zur Verbindung entstehen die Gebühren getrennt, also jeweils eine Grundgebühr und eine Verfahrensgebühr. Die zusätzliche Gebühr nach Nr. 4141 VV entsteht dagegen nach Verbindung nur einmal.
I. Verfahren 1/10
1. |
Grundgebühr, Nr. 4100 VV |
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165,00 EUR |
2. |
Verfahrensgebühr, Nr. 4104 VV |
|
140,00 EUR |
3. |
Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV |
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20,00 EUR |
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Zwischensumme |
325,00 EUR |
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4. |
19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV |
|
61,75 EUR |
Gesamt |
|
|
386,75 EUR |
II. Verfahren 2/10
1. |
Grundgebühr, Nr. 4100 VV |
|
165,00 EUR |
2. |
Verfahrensgebühr, Nr. 4104 VV |
|
140,00 EUR |
3. |
Zusätzliche Gebühr, Nrn. 4141, 4106 VV |
|
140,00 EUR |
4. |
Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV |
|
20,00 EUR |
|
Zwischensumme |
465,00 EUR |
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5. |
19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV |
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88,35 EUR |
Gesamt |
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553,35 EUR |
Beispiel 2: Abtrennung eines Ermittlungsverfahrens
Gegen den Mandanten wird wegen des Verdachts eines Betruges und wegen des Verdachts eines Diebstahls zunächst gemeinsam ermittelt (Az. 1/10). Später wird das Diebstahlsverfahren abgetrennt und als neue Sache (Az. 2/10) geführt. Anschließend werden beide Verfahren unter ...