Die unendliche Geschichte
Mit seiner Entscheidung vom 7.3.2007 hatte der BGH klargestellt, dass die Geschäftsgebühr der Nr. 2300 VV RVG (bzw. Nr. 2400 VV RVG a.F.) in voller Höhe eingeklagt werden kann und dass die Frage der Anrechnung der Geschäftsgebühr nicht eine Frage der Zulässigkeit oder Begründetheit der Klage ist, sondern dass darüber vielmehr im anschließenden Kostenfestsetzungsverfahren zu entscheiden sei. Bestand hier noch Hoffnung, dass der BGH die Anrechnung – wie die ganz überwiegende damalige OLG-Rechtsprechung – im Kostenfestsetzungsverfahren nur berücksichtigen werde, wenn die Geschäftsgebühr tituliert oder gezahlt sei oder wenn sie zeitgleich mit der Verfahrensgebühr geltend gemacht werde, hat sich diese Hoffnung durch die in der Praxis zu Recht als katastrophal bezeichnete Entscheidung des VIII. Senats vom 22.1.2008 zerschlagen.
Bis auf den 1. Senat des KG, der standhaft geblieben ist, ist die gesamte übrige Rechtsprechung umgeschwenkt und hat einen wahren Anrechnungswahn ausgelöst. Zu zahlreichen Fragen hatte der BGH bereits Gelegenheit, klarstellend die Anrechnung wieder einzudämmen.
So ist zwischenzeitlich durch den BGH entschieden, dass eine vereinbarte Vergütung, die an die Stelle einer anzurechnenden Gebühr getreten ist, nicht angerechnet wird und sich die erstattungsberechtigte Partei auch keine fiktive Anrechnung im Kostenfestsetzungsverfahren entgegenhalten lassen muss. Das OLG Stuttgart hatte zunächst die gegenteilige Auffassung vertreten und auch hier eine Anrechnung im Kostenfestsetzungsverfahren vorgenommen, die es bereits nach dem RVG gar nicht gibt.
Auch wollte es einigen OLG nicht schmecken, dass im Falle eines Anwaltswechsels eine Gebührenanrechnung unterbleibe. So hat das OLG Hamburg ernsthaft die Auffassung vertreten, ein Anwalt müsse sich Gebühren anrechnen lassen, die ein anderer Anwalt verdient habe. Auch dieser Fehlinterpretation hat der BGH zwischenzeitlich einen Riegel vorgeschoben.
Das OLG Koblenz war sogar der Auffassung, dass im Kostenfestsetzungsverfahren nicht nur die tatsächlich abgerechnete Geschäftsgebühr anzurechnen sei, sondern die angemessene. Wenn der Anwalt zu wenig abrechne, dann müsse trotzdem im Kostenfestsetzungsverfahren der Betrag hälftig angerechnet werden, den der Anwalt hätte verlangen können. Diese Auffassung ist aber von der übrigen Rechtsprechung nicht aufgegriffen worden, so dass es insoweit auch nicht zu einer Vorlage an den BGH gekommen ist.
Noch nicht höchstrichterlich geklärt ist, wie bei mehreren Auftraggebern anzurechnen ist. Die ganz einhellige Rechtsprechung geht davon aus, dass die Gebührenerhöhung nach Nr. 1008 VV in die Anrechnung mit einzubeziehen ist, weil es sich nicht um eine selbständige "Erhöhungsgebühr" handelt. Sie ist ferner der Auffassung, dass auch in diesem Fall die Anrechnungsgrenze bei 0,75 endet. Diese Frage, die immer wieder diskutiert wird, ist zwischenzeitlich dem BGH vorgelegt (VII ZB 116/09). Hier wird also in Kürze mit einer endgültigen Entscheidung zu rechnen sein.
Viel interessanter sind aber zwei Fragen, mit denen sich der BGH jetzt in Kürze befassen muss:
Zunächst einmal steht die gesamte Rechtsprechung des VIII. Senats auf dem Prüfstand, nachdem der II. Senat im Hinblick auf die neue Regelung des § 15a Abs. 2 RVG die Rechtsprechung des VIII. Senats für unzutreffend erklärt hat und auch in Altfällen eine Anrechnung nur unter den Voraussetzungen des § 15a Abs. 2 RVG berücksichtigen will. Auch hierzu liegen bereits zahlreiche Rechtsbeschwerden beim BGH vor. Dem nächsten Senat, der in dieser Sache entscheiden will, wird nichts anderes übrig bleiben, als den gemeinsamen Zivilsenat anzurufen.
Sollte der gemeinsame Senat die Rechtsauffassung des VIII. Senats bestätigen, schließt sich das Problem an, zu dem ebenfalls bereits zahlreiche Rechtsbeschwerden beim BGH vorliegen, nämlich die Frage, ab wann die neue Regelung des § 15a Abs. 2 RVG anzuwenden ist. Während zahlreiche Oberlandesgerichte die Übergangsregelung des § 60 RVG für unanwendbar halten, geht ein anderer Teil der Rechtsprechung davon aus, dass die Übergangsregelung greife und § 15a RVG nur auf "Neufälle" anwendbar sei. Daran wird sich dann wiederum die Frage anschließen, auf welchen Stichtag es ankommt, auf den Tag der Auftragserteilung zur außergerichtlichen Vertretung oder auf den Auftrag zur gerichtlichen Vertretung.
Für Diskussionsstoff ist also auch im dritten Jahr nach der ersten Entscheidung des VIII. Senats immer noch gesorgt.