§§ 3 Abs. 1 S. 1, 14 Abs. 1 RVG

Leitsatz

  1. Keine Kürzung der Verfahrensgebühr wegen arbeitserleichternder Umstände (Tätigkeit in mehreren Parallelverfahren) bei im Einzelfall vorhandenem Haftungsrisiko.
  2. Ein besonderes Haftungsrisiko kann eine Unterdurchschnittlichkeit kompensieren.
  3. Das maßgebliche Haftungsrisiko richtet sich bei Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden nach der zugrundeliegenden Forderungshöhe.

SG Gelsenkirchen, Beschl. v. 9.3.2020 – S 38 SF 28/20 E

I. Sachverhalt

Mit zugrundeliegender rund 11-monatiger Hauptsacheklage begehrten zwei Kläger die Aufhebung eines ergangenen Aufhebungs- und Erstattungsbescheides sowie die Gewährung höherer Leistungen nach dem SGB II (Grundsicherung für Arbeitssuchende).

Streitig war im Erinnerungsverfahren nach § 56 Abs. 1 RVG die Höhe der anwaltlichen Vergütung des beigeordneten Rechtsanwalts aus der Staats- bzw. Landeskasse für vorgenanntes Verfahren.

Mit Vergütungsfestsetzungsbeschluss ist die hier allein im Streit stehende Verfahrensgebühr Nrn. 3102, 1008 VV neben weiteren Gebühren i.H.v. 150,00 EUR festgesetzt worden. Aufgrund Vertretung der Kläger in zwei weiteren Parallelverfahren, welche den gleichen Inhalt hatten, rechtfertige sich die Kürzung der Verfahrensgebühr von 390,00 auf 150,00 EUR. Die anwaltliche Vertretung sei durch arbeitserleichternde Umstände, sog. Synergien, stark geprägt gewesen.

Gegen die Gebührenkürzung wandte sich der Erinnerungsführer mit dem Argument, die vorliegend komplexe Bescheidlage kompensiere den genannten Synergieeffekt.

Nach Nichtabhilfe durch die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle wurde der angefochtene Vergütungsfestsetzungsbeschluss im Erinnerungsverfahren aufgehoben und die Verfahrensgebühr in beantragter Höhe festgesetzt.

II. Die für die Gebührenbestimmung maßgeblichen Umstände

Neben allgemeinen Ausführungen zur Billigkeit der Gebühr nach § 14 Abs. 1 RVG (Bemessung im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, Toleranzrahmen pp.) führte das Gericht an, dass Schwierigkeit, Haftungsrisiko und Bedeutung der Angelegenheit leicht überdurchschnittlich bzw. überdurchschnittlich gewesen seien:

Die Höhe der streitigen Erstattungssumme sei als überdurchschnittlich anzusehen.

Zwar sei die erfolgte Auseinandersetzung mit dem klägerischen Anspruch nur im hiesigen Verfahren und eine Zulässigkeitsprüfung der Widersprüche lediglich in den Parallelverfahren erfolgt, dennoch rechtfertige die vorliegend erhebliche Anzahl an Bescheiden und Überprüfungsanträgen sowie der Umfang der Verwaltungsvorgänge keine Kürzung der Verfahrensgebühr, sondern vielmehr im Ergebnis die Entlohnung mit der Mittelgebühr.

III. Bedeutung für die Praxis

Der Beschluss ist in vielerlei Hinsicht dünn und oberflächlich begründet.

Ausführungen zum Bemessungskriterium des “Haftungsrisikos‘ enthält der Beschluss keine.

Nach § 14 Abs. 1 S. 2 RVG kann ein besonderes Haftungsrisiko des Rechtsanwalts bei der Gebührenbestimmung berücksichtigt werden. Sofern es sich um Betragsrahmengebühren handelt, ist das Haftungsrisiko bei der Gebührenbestimmung zu berücksichtigen (§ 14 Abs. 1 S. 3 RVG), da der Wert der Angelegenheit keinen unmittelbaren Einfluss auf die zu bestimmende Gebühr hat. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine eigenständige Gebühr im Sinne einer Haftungsgebühr (BSG, Urt. v. 27.1.2009 – B 7/7a AL 20/07 R; BSG, Urt. v. 12.12.2019 – B 14 AS 48/18 R).

In der Praxis stellt das Haftungsrisiko – trotz ausdrücklicher Normierung – allenfalls eine untergeordnete Rolle und wird bei der Gebührenbestimmung weitestgehend unberücksichtigt gelassen, denn das generelle Haftungsrisiko hat keinen direkten Einfluss auf die Höhe einer Gebühr.

Die Haftungsrisiken der Prozessvertreter sind aufgrund zahlreicher Korrekturmöglichkeiten im Bereich des SGB II (Grundsatz der klägerfreundlichen Auslegung, Meistbegünstigungsgrundsatz, Überprüfungsmöglichkeit, Erlassantrag) und des strengen Amtsermittlungsgrundsatzes nach § 103 SGG allgemein theoretischer Natur (LSG Sachsen, Beschl. v. 18.10.2013 – L 8 AS 1254/123 B). Allenfalls kann das im Einzelfall unter Zugrundelegung eines objektiven Maßstabs zu bestimmende besondere Haftungsrisiko zu einer höheren Gebühr führen (LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschl. v. 29.7.2008 – L 6 B 141/07; BSG, a.a.O.).

Mit einem generellen Haftungsrisiko lässt sich regelmäßig keine über dem Mittelwert liegende Gebühr begründen (LSG NRW, Urt. v. 5.5.2008 – L 3 R 84/08).

Sämtliche Bemessungskriterien des § 14 Abs. 1 RVG stehen jedoch gleichwertig nebeneinander. Demnach muss auch ein im Einzelfall vorhandenes Haftungsrisiko ein unterdurchschnittliches weiteres Bemessungskriterium des § 14 Abs. 1 RVG kompensieren können. Dies ist jedoch stets einzelfallbezogen zu prüfen.

Dem Beschluss sinngemäß folgend muss sich das anwaltliche Haftungsrisiko vorliegend nach der Höhe der Forderungssumme des Sozialhilfeträgers aus dem Aufhebungs- und Erstattungsbescheid richten. Die Höhe der geforderten Erstattungssumme kann dem Beschluss leider nicht entnommen werden. Diese muss jedoch zur Kompensation der vorhandenen Synergieeffekte geeignet gewesen sein.

Auch können dem Beschluss keine weiteren Ausführun...

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