§ 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO; §§ 46, 71 OWiG; § 91 Abs. 2 S. 1 ZPO
Leitsatz
- Die zivilgerichtliche Rechtsprechung zur begrenzten Erstattungsfähigkeit der Reisekosten eines auswärtigen Rechtsanwalts ist auf Straf- und Bußgeldsachen nicht übertragbar
- Vielmehr sind – weiterhin – Reisekosten eines nicht am Sitz des Prozessgerichts ansässigen (Wahl-)Verteidigers nur dann erstattungsfähige notwendige Auslagen, wenn dieser auch zum notwendigen Verteidiger hätte bestellt werden müssen oder seine Hinzuziehung aus besonderen Gründen (schwierige Rechtsmaterie, besonderes Vertrauensverhältnis o.ä.) erforderlich war.
- Wenn in einer einfachen Bußgeldsache der Kontakt zwischen Betroffenen und Verteidiger ausschließlich schriftlich bzw. per Telekommunikationsmittel stattfindet, sind die Reisekosten auch nicht in Höhe einer fiktiven Informationsfahrt des Betroffenen zu einem Rechtsanwalt am Sitz des Prozessgerichts erstattungsfähig.
LG Hildesheim, Beschl. v. 12.12.2022 – 22 Qs 18/22
I. Sachverhalt
Der Betroffene hat im Bußgeldverfahren einen auswärtigen Verteidiger beauftragt. Dieser hat, nachdem der Betroffene frei gesprochen worden ist und das AG der Staatskasse auch die notwendigen Auslagen des Betroffenen auferlegt hat, die Erstattung seiner Reisekosten (224,28 EUR Fahrtkosten und 50 EUR Abwesenheitsgeld nebst anteiliger Umsatzsteuer) beantragt. Das AG hat diese festgesetzt. Das dagegen gerichtete Rechtsmittel der Staatskasse hatte Erfolg.
II. Höchstmögliche Entfernung im AG-Bezirk
Das LG geht davon aus, dass die Reisekosten des auswärtigen Verteidigers nicht aus der Landeskasse zu erstattende notwendige Auslagen des Betroffenen sind. Aus der Bezugnahme in § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO auf § 91 Abs. 2 S. 1 Hs. 2. ZPO ergebe sich, dass Reisekosten eines auswärtigen Rechtsanwalts nach Nrn. 7003 ff. VV "nur insoweit" zu erstatten seien, als seine Zuziehung zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendig sei (vgl. KK-StPO/Gieg, 8. Aufl., 2019, StPO § 464a Rn 12). Selbst auf Grundlage der Rechtsauffassung des AG hätten die Kosten des auswärtigen Verteidigers daher nicht in voller Höhe festgesetzt werden dürfen, sondern – wie der Verteidiger selbst ausgeführt habe – nur i.H.d. Reisekosten eines Rechtsanwalts mit der höchstmöglichen Entfernung im Amtsgerichtsbezirk (BGH, Beschl. v. 9.5.2018 – I ZB 62/17, AGS 2018, 319 = MDR 2018, 1022), was hier zu festsetzbaren Reisekosten von etwa 63,60 EUR nebst Umsatzsteuer geführt hätte (33,60 EUR Reisekosten für jeweils etwa 40 km Hin- und Rückweg zzgl. 30 EUR Abwesenheitsgeld).
III. Keine Übertragung auf Straf- und OWi-Verfahren
2. Nach der Rspr. der Kammer lasse sich diese zivilgerichtliche Rspr. (zuletzt etwa BGH, Beschl. v. 14.9.2021 – VIII ZB 85/20, AGS 2021, 506 = MDR 2021, 1486 ff.) aber nicht auf Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren übertragen. Sie betreffe ganz andere Verfahrenssituationen, nämlich Zivilprozesse mit Anwaltszwang. Im Strafverfahren sei hingegen § 91 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 ZPO seit jeher differenziert ausgelegt worden. So ist die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines auswärtigen Anwalts – unabhängig von (Amts-)Gerichtsbezirken – grds. nur dann bejaht worden, wenn das Verfahren ein schwieriges und abgelegenes Rechtsgebiet betrifft, weshalb nur ein Anwalt mit besonderen Kenntnissen auf diesem Spezialgebiet zur ordnungsgemäßen Verteidigung in der Lage ist und ein solcher Spezialist am Sitz des Prozessgerichts nicht ansässig ist (vgl. LG Koblenz NStZ 2003, 619; OLG Köln NJW 1992, 586; OLG Jena StV 2001, 242; s.a. Kotz, NStZ-RR 2012, 265, 266 f.). Ferner komme bei einem schweren Schuldvorwurf dem besonderen Vertrauensverhältnis regelmäßig eine größere Bedeutung als die Ortsnähe zu. Wenn der auswärtige Verteidiger gem. §§ 141, 142 StPO als Pflichtverteidiger hätte bestellt werden können, dürfen seine als Wahlverteidiger geltend gemachten Auslagen dahinter nicht zurückbleiben (vgl. OLG Stuttgart RVGreport 2018, 26; OLG Nürnberg zfs 2011, 226 m. Anm. Hansens). Hingegen hätte die unreflektierte Anwendung der zivilistischen Rspr. ohne Berücksichtigung der Besonderheiten des Strafverfahrens hingegen auch die Konsequenz, dass in Fällen notwendiger Verteidigung die Fahrtkosten eines auswärtigen Wahlverteidigers, der zum Verteidiger hätte bestellt werden können, nur bis zur Höhe der im (Amts-)Gerichtsbezirk maximal anfallenden Reisekosten erstattungsfähig wären und wohl auch nicht auf die Schwierigkeit oder Entlegenheit des Rechtsgebiets abgestellt werden könnte.
Im Ordnungswidrigkeitenverfahren träten – so das LG – die vorgenannten Konstellationen nur ganz selten auf. Im Verfahren könne sich der Betroffene selbst vertreten und die Sachverhalte seien regelmäßig – wie hier bei dem Vorwurf eines überschaubaren Verkehrsverstoßes – einfach gelagert. Wie die Bezirksrevisorin zutreffend ausgeführt habe, sei es dann dem Betroffenen grds. zumutbar, einen Rechtsanwalt am Gerichtssitz zu mandatieren, für dessen Terminswahrnehmung keine Reisekosten anfallen.
IV. Fiktive Informationsfahrt
In seiner Rspr. habe die Kammer zwar dem Betroffenen regelmäßig Reisekosten i.H.d. nicht umsatzsteuerbelasteten Kosten einer fiktiven Informa...