Nr. 4142 VV RVG; §§ 421 ff. StPO
Leitsatz
Bei einem eingestellten Ermittlungsverfahren und dem selbstständigen Einziehungsverfahren handelt es sich nicht um dieselbe Angelegenheit i.S.d. § 15 RVG. Gebührenrechtlich hat eine eigenständige Abgeltung zu erfolgen, bei der – neben der zusätzlichen Verfahrensgebühr für Einziehungen nach Nr. 4142 VV – auch Grund-, Verfahrens- und Terminsgebühren für den Einziehungsbeteiligten entstehen können.
LG Bremen, Beschl. v. 17.2.2022 – 5 Qs 321/21 u. 5 Qs 488/21
I. Sachverhalt
Der Rechtsanwalt war für die Betroffene sowohl im Strafverfahren als auch in einem sich anschließenden selbstständigen Einziehungsverfahren tätig. Er hat für dieses nach dessen Einstellung gegenüber der Staatskasse, der die Kosten des Verfahrens auferlegt worden waren, neben der zusätzlichen Verfahrensgebühr Nr. 4142 VV u.a. auch die allgemeinen Verfahrensgebühren und eine Terminsgebühr geltend gemacht. Diese sind vom AG Bremen festgesetzt worden (vgl. AGS 2021, 400 mit weiteren Einzelheiten des Sachverhalts). Das dagegen gerichtete Rechtsmittel der Staatskasse hatte keinen Erfolg.
II. Dieselbe Angelegenheit
Das LG schließt sich der Auffassung des AG, dass es sich bei dem eingestellten Ermittlungsverfahren und dem selbstständigen Einziehungsverfahren nicht um dieselbe Angelegenheit i.S.d. § 15 RVG handelt, an. Gebührenrechtlich habe eine eigenständige Abgeltung zu erfolgen, bei der – neben der zusätzlichen Verfahrensgebühr für Einziehungen nach Nr. 4142 VV – auch Grund-, Verfahrens- und Terminsgebühren für den Einziehungsbeteiligten entstehen können (vgl. auch Burhoff, AGS 2021, 400 in der Am. zu AG Bremen, a.a.O.).
Nach Auffassung des LG kann die zur gleichgelagerten Problematik in Bußgeldsachen (Nr. 5116 VV) ergangenen Rspr. auf den Bereich der Strafsachen übertragen werden (vgl. zu Nr. 5116 VV LG Karlsruhe, Beschl. v. 26.2.2103 – 3 Qs 6/13 KO, AGS 2013, 230 = RVGreport 2013, 235 = DAR 2013, 358; LG Oldenburg, Beschl. v. 7.12.2012 – 5 Qs 384/12, JurBüro 2013, 135 = RVGreport 2013, 62 = VRR 2013, 159 = StRR 2013, 314; LG Stuttgart, Beschl. v. 17.2.2020 – 20 Qs 15/19; DAR 2020, 358; LG Trier, Beschl. v. 8.8.2016 – 1 Qs 32/16, RVGreport 2016, 385 = VRR 10/2016 20; OLG Karlsruhe AGS 2013, 173 = RVGreport 2012, 301 = StRR 2012, 279 = VRR 2012, 319 m. jew. abl. Anm. Burhoff; LG Koblenz, Beschl. 28.1.2018 – 9 Qs 59 u. 60/17, AGS 2018, 494 = RVGreport 2018, 386).
Wie die §§ 421 ff. StPO und insbesondere § 427 StPO deutlich machen, gehe das Gesetzgeber davon aus, dass ein Einziehungsbeteiligter zur Wahrung seiner Rechte nicht nur vollumfänglich am Verfahren zu beteiligen sei, sondern ihm grds. auch die gleichen Befugnisse einzuräumen seien, die einem Angeklagten zustehen. Gerade die ggf. unterschiedliche Interessenlage zwischen Beschuldigten und Einziehungsbeteiligten könne es im Einzelfall erforderlich machen, dass der Einziehungsbeteiligte sich intensiv(er) und umfangreich(er) – z.B. über Beweisanträge – am Verfahren beteiligen muss. Eine Vergütung lediglich anhand der als Wertgebühr ausgestalteten Einziehungsgebühr würde der gesetzlichen Stellung und Interessenlage der Einziehungsbeteiligten demnach nicht gerecht werden und führe in aller Konsequenz in eine Situation, in der Verteidiger von Einziehungsbeteiligten nur dann mit einer angemessenen Vergütung rechnen können, wenn der Wert des Einziehungsgegenstandes ausreichend hoch ist, um ggf. auch umfangreiche und schwierige anwaltliche Tätigkeiten abzudecken.
III. Bedeutung für die Praxis
1. Die Entscheidung ist zutreffend.
2. Wegen der Einzelheiten verweise ich auf meine Anmerkung zu AG Bremen in AGS 2021, 400. Dass das (eigentliche) Strafverfahren und das selbstständige Einziehungsverfahren unterschiedliche Angelegenheiten i.S.d. § 15 RVG sind, hatte ich bereits dort dargelegt. Darauf nehme ich Bezug. Legt man das zugrunde, entstehen im selbstständigen Einziehungsverfahren ggf. für den Verteidiger alle Gebühren noch einmal, und zwar ggf. sowohl die Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV im vorbereitenden Verfahren sowie die Verfahrensgebühr und ggf. Terminsgebühren im gerichtlichen Verfahren, und zwar neben der zusätzlichen Verfahrensgebühr Nr. 4142 VV. Die Grundgebühr Nr. 4100 VV entsteht für den im selbstständigen Einziehungsverfahren tätigen Rechtsanwalt allerdings nur, wenn er den Betroffenen nicht zuvor bereits im Strafverfahren vertreten hat, da es sich insoweit um denselben Rechtsfall handelt.
3. Diese Auffassung dürfte inzwischen h.M. in der Rspr. sein, wie die vom LG in seiner Entscheidung angeführten Nachweise zeigen. Hinzuweisen ist darüber hinaus noch auf LG Hamburg und LG Freiburg, die grds. ebenfalls dieser Auffassung sind, allerdings teilweise hinsichtlich des Umfangs der entstehenden Gebühren abweichen (wegen der Einzelheiten LG Hamburg, Beschl. v. 18.10.2021 – 612 Qs 100/20, AGS 2022, 25 bzw. LG Freiburg AGS 2020, 122 = StRR 6/2020, 31 = JurBüro 2020, 130 = RVGreport 2020, 461).
Rechtsanwalt Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg
AGS 1/2023, S. 26