§ 15a Abs. 2 Alt. 1 RVG a.F., § 15a Abs. 3 Alt. 1 RVG; Nr. 2300, Vorbem. 3 Abs. 4 S. 1 u. 4 VV RVG
Leitsatz
Wird eine vorgerichtlich entstandene Geschäftsgebühr isoliert eingeklagt, so ist sie unter den Voraussetzungen des § 15a Abs. 2 RVG a.F. (jetzt § 15a Abs. 3 RVG) im nachfolgenden Kostenfestsetzungsverfahren hälftig auf die im Rechtsstreit entstandene Verfahrensgebühr anzurechnen.
BGH, Beschl. v. 24.10.2023 – VI ZB 39/21
I. Sachverhalt
Die Klägerin, eine Rechtsanwalts-Partnerschaftsgesellschaft, war von einer Leasinggesellschaft außergerichtlich mit der Geltendmachung von (materiellen) Schadensersatzansprüchen aus 22 Verkehrsunfällen gegen den beklagten Haftpflichtversicherer beauftragt worden, bei denen jeweils im Eigentum der Leasinggesellschaft stehende und bei der Beklagten versicherte Fahrzeuge beschädigt worden waren. Auf die außergerichtlichen Schreiben der Klägerin, mit denen sie jeweils Ersatz des Sachschadens und der zur Durchsetzung dieses Anspruchs vorgerichtlich angefallenen Rechtsanwaltskosten (jeweils eine 1,3-Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV nebst Postentgeltpauschalen) forderte, beglich die Beklagte jeweils nur den Sachschaden, nicht aber auch die Rechtsanwaltskosten. Die Ansprüche auf Erstattung dieser Kosten i.H.v. insgesamt 9.175,35 EUR trat die Leasinggesellschaft daraufhin an die Klägerin ab, die sie anschließend gegen die Beklagte einklagte. Im Laufe des Rechtsstreits hat die Beklagte die außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten i.H.v. 9.175,35 EUR an die Klägerin bezahlt, worauf die Parteien den Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben. Das LG hat daraufhin der Beklagten die Kosten des Rechtsstreits auferlegt.
Im Kostenfestsetzungsverfahren hat die Klägerin anschließend u.a. eine ungekürzte 1,3-Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 VV aus dem Wert der Klageforderung i.H.v. 725,40 EUR (altes Recht) geltend gemacht. Das LG hat in vollem Umfang antragsgemäß festgesetzt. Auf die sofortige Beschwerde der Beklagten hat das OLG den Kostenfestsetzungsbeschluss des LG abgeändert und den von der Beklagten an die Klägerin zu erstattenden Betrag um 725,40 EUR reduziert.
Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer vom OLG zugelassenen Rechtsbeschwerde, die allerdings keinen Erfolg hatte.
II. Die Begründung des OLG
Nach Auffassung des Beschwerdegerichts sind sämtliche der vorgerichtlich entstandenen 22 Geschäftsgebühren auf die Verfahrensgebühr des nachfolgenden Rechtsstreits gem. Vorbem. 3 Abs. 4 VV hälftig anzurechnen. Die Geschäftsgebühren seien wegen desselben Gegenstands entstanden wie die Verfahrensgebühr. Gegenstand der außergerichtlichen Tätigkeit der Klägerin sei die Regulierung von materiellen Schadensersatzansprüchen der Zedentin aus 22 Verkehrsunfällen gegen die hinter den Schadensverursachern als Haftpflichtversicherer stehende Beklagte. Zu diesen Ansprüchen würden nach § 249 BGB auch die Kosten der Rechtsverfolgung gehören. Eben diese Kosten – und damit ein Teil des Schadens aus den Verkehrsunfällen – seien mit der anschließenden Klage gegen die Beklagte eingeklagt worden. Die von der Klägerin entfaltete außergerichtliche Tätigkeit betreffe daher hinsichtlich der Kosten der Rechtsverfolgung dieselben rechtlichen und tatsächlichen Punkte wie die spätere gerichtliche Geltendmachung. Ein rein formales Abstellen auf einen geänderten Streitwert überzeuge hingegen nicht, weil dies der gebotenen wirtschaftlichen Betrachtung und dem Sinn und Zweck der Anrechnungsvorschrift, dass ein bereits vorgerichtlich mit der Angelegenheit befasster Rechtsanwalt einen geringeren Einarbeitungs- und Vorbereitungsaufwand habe, nicht gerecht werde.
Die Anrechnung führe im konkreten Fall dazu, dass die Verfahrensgebühr gänzlich entfalle. Denn alle Geschäftsgebühren seien in der tatsächlichen Höhe hälftig auf die Verfahrensgebühr anzurechnen. Die Beklagte könne sich auch nach § 15a Abs. 2 Fall 1 RVG a.F. (seit dem 1.1.2021 aufgrund des KostRÄG 2021 jetzt § 15a Abs. 3 Fall 1 RVG n.F.) auf die Anrechnung berufen. Sie habe die mit der Klage geforderten Geschäftsgebühren unstreitig bezahlt und den diesbezüglichen Anspruch damit erfüllt.
III. Die Begründung des BGH
1. BGH folgt den Erwägungen des OLG
Der BGH folgt den Erwägungen des OLG. Es habe die vorgerichtlich entstandenen Geschäftsgebühren zu Recht jeweils hälftig auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens angerechnet mit der Folge, dass diese vollständig aufgezehrt worden seien. Die Beklagte könne sich auch gem. § 15a Abs. 2 Fall 1 RVG a.F. (jetzt § 15a Abs. 3 Fall 1 RVG n.F.) auf die Anrechnung berufen.
2. Anrechnung setzt denselben Gegenstand voraus
Nach Vorbem. 3 Abs. 4 S. 1 VV werde die wegen desselben Gegenstands entstandene Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens angerechnet, bei Wertgebühren jedoch höchstens mit einem Gebührensatz von 0,75. Bei einer wertabhängigen Gebühr erfolge nach Vorbem. 3 Abs. 4 S. 5 VV in der bis zum 31.12.2020 geltenden Fassung die Anrechnung nach dem Wert des Gegenstands, der auch Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens ist.
3. Derselbe Gegenstan...