§ 74 JGG
Leitsatz
Die Entscheidung, der zur Tatzeit jugendlichen Verurteilten gem. § 74 JGG die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen, ist eine Ermessensentscheidung, die von dem Beschwerdegericht lediglich auf Ermessensfehler überprüfbar ist. Maßstab der Ermessensentscheidung ist es, einerseits eine wirtschaftliche Gefährdung der Verurteilten zu vermeiden, andererseits, ihr durch die Auferlegung von Kosten zu zeigen, dass sie für die Folgen ihres Tuns unter Berücksichtigung des Erziehungsgedankens einzustehen hat.
OLG Nürnberg, Beschl. v. 9.11.2023 – Ws 982/23
I. Sachverhalt
Die Jugendkammer beim LG hat die zum Tatzeitpunkt jugendliche Verurteilte mit Urt. v. 24.4.2023 unter Anwendung von Jugendstrafrecht wegen fünf Fällen der Beihilfe zum Diebstahl mit Sachbeschädigung schuldig gesprochen, ihr eine Geldauflage i.H.v. 500,00 EUR erteilt und sie für die Dauer von einem Jahr der Aufsicht und Betreuung eines Betreuungshelfers unterstellt. Die Mitverurteilten wurden jeweils wegen fünf Fällen des schweren Bandendiebstahls mit Sachbeschädigung zu Gesamtfreiheitsstrafen oder einer Einheitsjugendstrafe mit Bewährung verurteilt. Der Verurteilung liegt zu Grunde, dass die Verurteilte die Mitangeklagten bei Begehung von Diebstählen unterstützte, indem sie während der Taten im Fahrzeug wartete, um diese vor etwaiger Entdeckung zu warnen.
Nachdem die Staatsanwaltschaft beantragt hatte, bei der Verurteilten von der Auferlegung von Kosten abzusehen, hat das LG angeordnet, dass die Verurteilte und zwei Mitverurteilte die Kosten des Verfahrens zu tragen haben. Von der Möglichkeit des § 74 JGG, aus erzieherischen Gründen von der Auferlegung von Kosten abzusehen, hat das LG keinen Gebrauch gemacht.
Hiergegen wendet sich die Verurteilte mit der sofortigen Beschwerde. Sie ist der Auffassung, dass das LG sein Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt habe, weil die Kostenentscheidung nicht berücksichtige, dass ein Großteil der angefallenen Kosten nicht auf den Tatbeitrag der Verurteilten zurückzuführen sei. Zudem sei es aus erzieherischen Gründen geboten, dass die Verurteilte, die derzeit in einem befristeten Arbeitsverhältnis arbeite, eine Berufsausbildung beginne, was angesichts der Kostentragungslast von geschätzt 20.000,00 EUR erschwert werde. Hinzu komme, dass sie als jüngste der Verurteilten wegen der Inhaftierung der anderen kostentragungspflichtigen Verurteilten voraussichtlich allein die Kosten tragen müsse, was unverhältnismäßig sei. Schließlich ergebe sich aus der Urteilsbegründung des LG, dass die Auferlegung der Kosten der zusätzlichen Sanktionierung dienen solle, was mit dem Erziehungsgedanken des JGG unvereinbar sei. Die sofortige Beschwerde der Verurteilten hatte Erfolg.
II. Grundsätze des § 74 JGG
Die Entscheidung, der zur Tatzeit jugendlichen Verurteilten gem. § 74 JGG die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen, sei, so das OLG, eine Ermessensentscheidung, die von dem Beschwerdegericht lediglich auf Ermessensfehler überprüfbar ist. Maßstab der Ermessensentscheidung sei es, einerseits eine wirtschaftliche Gefährdung der Verurteilten zu vermeiden, andererseits, ihr durch die Auferlegung von Kosten zu zeigen, dass sie für die Folgen ihres Tuns unter Berücksichtigung des Erziehungsgedankens einzustehen hat. Dabei sei im Rahmen der pflichtgemäßen Ermessensausübung die Möglichkeit gem. § 74 JGG – um Folgewirkungen im Sinne einer negativen Sanktionierung durch die Auferlegung der Kosten zu vermeiden – bei Jugendlichen tendenziell ausgedehnt zu nutzen (Eisenberg/Kölbel, JGG, 24. Aufl., 2023, § 74 Rn 8c). Auch die Gesamtbelastung, die die Kostenentscheidung bewirke, sei abwägungsrelevant (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 14.2.2011 – III – 4 Ws 59/11; OLG Hamm, Beschl. v. 28.11.2017 – III – 4 Ws 213/17).
III. Anwendung der Grundsätze auf den Einzelfall
Die vom LG getroffene Entscheidung genüge diesen Anforderungen nach Auffassung des OLG nicht.
1. Keine Vereinbarkeit mit dem Erziehungsgedanken
Zum einen führt das LG aus, dass die festgesetzte Geldauflage der Höhe nach nur deshalb so gering bemessen wurde, weil die Verurteilte mit der Kostentragungspflicht belastet wird. Angesichts der Höhe der Kosten des Verfahrens tritt die eigentliche Rechtsfolge in den Hintergrund, was mit dem Erziehungsgedanken nicht zu vereinbaren sei (Eisenberg/Kölbel, a.a.O., § 74 Rn 8d, LG Freiburg NStZ-RR 2000, 183).
2. Belastung mit den gesamten Verfahrenskosten kontraproduktiv
Zum anderen begründe das LG seine Entscheidung damit, dass die Verurteilte bei Berücksichtigung ihrer gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage bei einem Nettoverdienst von 1.500,00 EUR durch ihre auf sechs Monate befristete Tätigkeit imstande ist, die Kosten des Verfahrens in Raten zu begleichen. Dabei bleibe unberücksichtigt, dass zum einen das Arbeitsverhältnis befristet sei und zum anderen die Jugendliche plane, eine Ausbildung zur Verkäuferin oder im Bereich Kosmetik zu machen. Für die – unter Erziehungsaspekten wünschenswerte – Beendigung der Hilfstätigkeit und Absolvierung einer Ausbildung ist die Belastung mit den gesamten Verfahrenskosten kontraproduktiv. Der Verurteilten, die derzeit noch b...