RVG § 15 Abs. 3; RVG VV Nrn. 3100, 2300, Vorbem. 3 Abs. 4
Leitsatz
Entsteht im gerichtlichen Verfahren sowohl eine volle Verfahrensgebühr (Nr. 3100 VV) als auch eine ermäßigte Verfahrensgebühr (Nr. 3101 VV) und ist auf die volle Verfahrensgebühr eine vorgerichtliche Geschäftsgebühr (Nr. 2300 VV) gem. Vorbem. 3 Abs. 4 VV anzurechnen, so ist erst die Anrechnung vorzunehmen und dann zu prüfen, ob das verbleibende Gebührenaufkommen gegebenenfalls nach § 15 Abs. 3 RVG zu kürzen ist.
OLG Stuttgart, Beschl. v. 9.1.2009–8 W 527/08
1 Sachverhalt
Der Anwalt war für den Kläger nach einem Gegenstandswert von 120.000,00 EUR außergerichtlich tätig geworden und hatte dafür ausgehend von einer Schwellengebühr (1,3) und einer Erhöhung für zwei Auftraggeber um 0,3 eine 1,6-Geschäftsgebühr abgerechnet.
1. |
1,6-Geschäftsgebühr, Nrn. 2300, 1008 VV (Wert: 120.000,00 EUR) |
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2.289,60 EUR |
2. |
Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV |
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20,00 EUR |
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Zwischensumme |
2.309,60 EUR |
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3. |
19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV RVG |
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438,82 EUR |
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Gesamt |
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2.748,42 EUR |
Hiernach kam es zum Rechtsstreit, der durch einen Vergleich erledigt wurde. In diesen Vergleich wurde auch eine weitere nicht anhängige Forderung in Höhe von 23.452,00 EUR mit aufgenommen.
Im Rechtsstreit angefallen waren damit eine 1,6-Verfahrensgebühr (Nrn. 3100, 1008 VV) aus dem Wert von 120.000,00 EUR und eine 1,1-Verfahrensgebühr (Nrn. 3101, 1008 VV) aus dem Wert von 23.452,00 EUR. Im anschließenden Kostenfestsetzungsverfahren stritten die Parteien nunmehr darüber, ob die vorangegangene Geschäftsgebühr auf die 1,6-Verfahrensgebühr anzurechnen sei oder ob zunächst eine Kürzung der beiden entstandenen Verfahrensgebühren nach § 15 Abs. 3 RVG durchzuführen und erst dann danach anzurechnen sei.
Der Rechtspfleger hat die beiden Verfahrensgebühren zuerst nach § 15 Abs. 3 RVG auf eine 1,6-Verfahrensgebühr aus dem Gesamtwert von 143.453,00 EUR gekürzt und hiernach dann die Geschäftsgebühr gem. Vorbem. 3 Abs. 4 VV hälftig angerechnet. Das führte dazu, das bei der Kostenausgleichung lediglich berücksichtigt wurde:
1. |
1,6-Verfahrensgebühr, Nrn. 3100, 1008 VV |
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(Wert: 120.000,00 EUR) |
2.289,60 EUR |
2. |
1,1-Verfahrensgebühr, Nrn. 3100, 3101, 1008 VV |
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(Wert: 23.452,00 EUR) |
754,60 EUR |
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gem. § 15 Abs. 3 RVG nicht mehr als 1,6 aus 143.452,00 EUR |
2.536,00 EUR |
3. |
gem. Vorbem. 3 Abs. 4 VV anzurechnen, 0,75 aus 120.000,00 EUR |
– 1.073,25 EUR |
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Gesamt |
1.462,75 EUR |
Die dagegen erhobene sofortige Beschwerde hatte Erfolg.
2 Aus den Gründen
Aufgrund der Rspr. des BGH (8. Zivilsenat, NJW 2008, 1323 [= AGS 2008, 158]; 6. und 8. Zivilsenat, JurBüro 2008, 468 und 469; 4. Zivilsenat, AGS 2008, 377; 9. Zivilsenat, NJW 2008, 3641 [= AGS 2008, 539]) zur Anrechnung der vorgerichtlichen Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV auf die Verfahrensgebühr (Nr. 3100 VV; hier zuzüglich der Erhöhungsgebühr gem. Nr. 1008 VV) des gerichtlichen Verfahrens gem. Vorbem. 3 Abs. 4 VV besteht zwischen den Parteien zur Frage der grundsätzlichen Anrechnung und deren Höhe kein Streit, sondern lediglich zu Art und Weise dieser Anrechnung beim Vorliegen der Voraussetzungen des § 15 Abs. 3 RVG.
Ausgehend vom Wortlaut der Anrechnungsvorschrift gem. Vorbem. 3 Abs. 4 VV und der vorgenannten Rspr. des BGH ist von Folgendem auszugehen:
Die Anrechnungsvorschrift bezweckt unter einem aufwandsbezogenen Gesichtspunkt die Kürzung der Verfahrensgebühr, weil der Prozessbevollmächtigte aufgrund seiner vorprozessualen Befassung mit dem Streitstoff in der Regel nur einen geringeren Einarbeitungs- und Vorbereitungsaufwand hat. Dementsprechend besagt Vorbem. 3 Abs. 4 VV, dass die Anrechnung vorzunehmen ist, wenn "wegen desselben Gegenstands" die vorgerichtliche Geschäftsgebühr und die gerichtliche Verfahrensgebühr entstanden sind.
Dies trifft vorliegend aber nur zu bezüglich des rechtshängigen Zahlungsanspruchs von 120.000,00 EUR, weswegen die vom Beklagtenvertreter vorgenommene Anrechnung auf die Verfahrensgebühr aus diesem Streitwert vor Anwendung des § 15 Abs. 3 RVG gerechtfertigt erscheint.
Hierfür spricht außerdem, dass der BGH (NJW 2007, 3500; NJW 2008, 1323) klargestellt hat, dass sich allein die wegen desselben Gegenstands später anfallende Verfahrensgebühr infolge der Anrechnung reduziert durch den anrechenbaren Teil der zuvor entstandenen Geschäftsgebühr, die ihrerseits von der Anrechnung unangetastet bleibt. Damit konnte die Verfahrensgebühr bezüglich des rechtshängigen Zahlungsanspruchs nur in dem bereits geschmälerten Umfang im Rahmen des § 15 Abs. 3 RVG berücksichtigt werden.
Schließlich ist die um die anteilige Geschäftsgebühr geminderte Verfahrensgebühr nach Nrn. 3100, 1008 VV aus dem rechtshängigen Zahlungsanspruch von 120.000,00 EUR zu einem früheren Zeitpunkt angefallen, als die Verfahrensgebühr aus dem Mehrwert des Vergleichs nach Nrn. 3101 Nr. 2, 1008 VV entstehen und damit die Voraussetzungen des § 15 Abs. 3 RVG eintreten konnten, so dass eine Umgehung dieser Vorschrift nicht gegeben ist. Denn wenn die Summe der Einzelgebühren die 1,6-Verfahrensgebühr aus dem Gesamtst...