In der Praxis spielen im Recht der Pflichtverteidigung in den Fällen der Verbindung mehrerer Verfahren die mit § 48 Abs. 6 RVG zusammenhängenden Fragen eine große Rolle. Dabei geht es immer um die Frage, ob der Verteidiger auch in den Verfahren die gesetzlichen Gebühren geltend machen kann, in denen er (noch) nicht zum Pflichtverteidiger bestellt war. Dazu ist in § 48 Abs. 6 S. 3 RVG die sog. Erstreckung vorgesehen. In dem Zusammenhang ist in Rspr. und Lit. umstritten (gewesen), ob ein anwaltlicher Vergütungsanspruch für frühere Tätigkeiten in Verfahren, die vor der Beiordnung hinzuverbunden wurden, bereits aus § 46 Abs. 6 S. 1 RVG folgt und ob demgemäß der Anwendungsbereich des § 48 Abs. 6 S. 3 RVG entsprechend auf Fälle beschränkt ist, in denen nach einer Beiordnung noch weitere Verfahren hinzuverbunden werden.
Beispiel
Die StA hat gegen den Angeklagten ursprünglich zwei Ermittlungsverfahren geführt, und zwar das Verfahren V 1 sowie das Verfahren V 2. Am 14.1.2019 legitimierte sich der Rechtsanwalt gegenüber der StA als Verteidiger in beiden Verfahren und beantragte jeweils Akteneinsicht, die auch gewährt wurde. Am 1.2.2019 erfolgte die Verbindung des Verfahrens V 1 zu dem führenden Verfahren V 2 durch die StA. Am 29.3.2019 erhebt die StA Anklage.
Auf den Antrag des Verteidigers vom 11.4.2019 wird dieser mit Beschl. v. 15.4.2019 zum Pflichtverteidiger des Angeklagten bestellt.
Der Verteidiger beantragt in seinem Festsetzungsantrag später u.a. die Festsetzung von zwei Grundgebühren nach Nr. 4100 VV sowie von zwei Verfahrensgebühren nach Nr. 4104 VV.
In diesen Fällen war bislang streitig, ob nach § 48 Abs. 6 S. 3 RVG hätte erstreckt werden müssen oder ob es sich um einen Fall des § 48 Abs. 6 S. 1 RVG handelt und eine Erstreckung nicht erforderlich war. Diskutiert wurde also darum, ob sich die Frage der Erstreckung nur stellt, wenn zu einem Verfahren, in dem der Verteidiger bereits beigeordnet ist, weitere Verfahren, in denen bislang keine Beiordnung erfolgte, hinzuverbunden werden, es für die Anwendung der Vorschrift also auf die zeitliche Abfolge von Verbindung und Bestellung/Beiordnung ankommt, der Verteidiger somit grds. nicht immer einen Erstreckungsantrag stellen muss.
Diesen Streit hat das KostRÄG 2021 v. 21.12.2020 durch einen Einschub in § 48 Abs. 6 S. 3 RVG gelöst. Dort heißt es nämlich jetzt:
Zitat
"Werden Verfahren verbunden und ist der Rechtsanwalt nicht in allen Verfahren bestellt oder beigeordnet, kann das Gericht die Wirkung des Satzes 1 auch auf diejenigen Verfahren erstrecken, in denen vor der Verbindung keine Beiordnung oder Bestellung erfolgt war."
Das bedeutet: Es ist jetzt gesetzlich klargestellt, dass dann, wenn Verfahren zunächst verbunden werden und erst danach die anwaltliche Bestellung oder Beiordnung in dem nunmehr verbundenen Verfahren erfolgt, § 48 Abs. 6 S. 1 RVG unmittelbar gilt. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass keine Gründe ersichtlich sind, warum das Gericht in den Fällen ausdrücklich nach § 48 Abs. 6 S. 3 RVG die Erstreckungswirkung anordnen sollte. Damit ist der Anwendungsbereich des § 48 Abs. 6 S. 3 RVG auf die Fälle der nach der Beiordnung oder Bestellung erfolgten Verfahrensverbindungen beschränkt. Es ist zudem damit indirekt klargestellt, dass die Anordnung einer Erstreckungswirkung bei einer anwaltlichen Bestellung oder Beiordnung nach der Verbindung deshalb nicht erforderlich ist, weil § 48 Abs. 6 S. 1 RVG unmittelbar gilt. Soweit die Neuregelung in einem Verfahren wegen der Regelung in § 60 RVG noch nicht gilt und diese Frage im Vergütungsfestsetzungsverfahren streitig wird, sollte der Verteidiger sich in der Diskussion ggf. auf die Gesetzesänderung und die Gesetzesbegründung berufen, die ausdrücklich in diesen Fällen einen Erstreckungsantrag für nicht erforderlich hält. Entgegen stehende frühere Rspr. kann man unter Berücksichtigung der Begründung und des in der Änderung manifestierten gesetzgeberischen Willens nicht mehr aufrecht erhalten.