§ 58 Abs. 2 RVG; Vorbem. 3 Abs. 4 VV RVG
Leitsatz
Auf die aus der Landeskasse zu zahlende Verfahrensgebühr ist eine vorangegangene Geschäftsgebühr nur insoweit anzurechnen, als sie auch an den Anwalt gezahlt worden ist.
LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 1.12.2020 – L 39 SF 41/18 B E
I. Sachverhalt
Die antragstellende Rechtsanwältin war für ihren Mandanten zunächst in einem sozialrechtlichen Widerspruchsverfahren tätig und hatte anschließend Klage vor dem SG erhoben, für die sie im Rahmen der Prozesskostenhilfe beigeordnet wurde. Im Verfahren vor dem SG ist dann ein Vergleich geschlossen worden, der u.a. beinhaltete, dass die beklagte Behörde 3/4 der Kosten des Vorverfahrens dem Mandanten zu erstatten habe. Die Antragstellerin forderte daraufhin von der Behörde für den Mandanten folgende Kosten zur Erstattung an:
1. |
Geschäftsgebühr, Nr. 2302 VV |
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300,00 EUR |
2. |
Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV |
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20,00 EUR |
3. |
Abzüglich 1/4 |
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– 80,00 EUR |
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Zwischensumme |
240,00 EUR |
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4. |
19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV |
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45,60 EUR |
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Gesamt |
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285,60 EUR |
Diesen Betrag zahlte die beklagte Behörde. Im Anschluss beantragte die Antragstellerin dann beim SG die Festsetzung ihrer Prozesskostenhilfe-Vergütung für das gerichtliche Verfahren. Die Urkundsbeamtin setzte daraufhin folgende Vergütung fest:
1. |
Verfahrensgebühr, Nr. 3102 VV |
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300,00 EUR |
2. |
gem. Vorbem. 3 Abs. 4 VV |
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– 150,00 EUR |
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anzurechnen |
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3. |
Terminsgebühr, Nr. 3106 VV |
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280,00 EUR |
4. |
Einigungsgebühr, Nr. 1006 VV |
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300,00 EUR |
5. |
Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV |
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20,00 EUR |
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Zwischensumme |
750,00 EUR |
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6. |
19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV |
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142,50 EUR |
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Gesamt |
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892,50 EUR |
Zur Begründung führte sie aus, dass die Anrechnung der Geschäftsgebühr nach Vorbem. 3 Abs. 4 VV in Höhe der tatsächlich entstandenen Geschäftsgebühr zu erfolgen habe, mithin i.H.v. 150,00 EUR. Die hiergegen erhobene Erinnerung wurde zurückgewiesen. Die dagegen erhobene Beschwerde, mit der die Antragstellering eine Reduzierung der Anrechnung auf 75,00 EUR erreichen wollte, hatte nur teilweise Erfolg.
II. Berechnung des Anrechnungsbetrags
Für die Berechnung des anzurechnenden Betrags komme es nach dem Wortlaut der Vorbem 3 Abs. 4 VV zwar auf die entstandene Geschäftsgebühr an. Die Regelung sei jedoch im Rahmen der Vergütung eines beigeordneten Rechtsanwalts dahingehend zu verstehen, dass nur tatsächliche Zahlungen auf die Geschäftsgebühr bei Anrechnung zu berücksichtigen seien. Dies ergebe sich jedenfalls gesetzessystematisch aus den Vorschriften der § 55 Abs. 2 bis 4 RVG. Danach müsse ein Anwalt angeben, welche Zahlungen er auf die beanspruchte Gebühr oder auf anzurechnende Gebühren erhalten habe. Nachträgliche Zahlungen müsse er ebenfalls angeben. Damit habe der Gesetzgeber unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass bei der Vergütungsfestsetzung nach § 55 RVG nur tatsächliche Zahlungen auf anzurechnende Gebühren zu berücksichtigen seien. Zudem stelle auch § 58 Abs. 2 RVG seinem Wortlaut nach nur auf erhaltene, also tatsächlich geleistete Vorschüsse und Zahlungen ab. Hieraus wiederum folge, dass nur die Hälfte der tatsächlich gezahlten Geschäftsgebühr anzurechnen sei. Da von den 300 EUR nur 3/4 dem Mandanten erstattet und an den Anwalt gezahlt worden seien, also 225,00 EUR, seien folglich nur 112,50 EUR anzurechnen.
III. Bedeutung für die Praxis
Die Entscheidung ist meines Erachtens unzutreffend. Das Gericht hätte der Beschwerde in vollem Umfang stattgeben müssen. Zumindest nach der zum 1.1.2021 durch das Kostenrechtsänderungsgesetz 2021 in Kraft getretenen Neufassung des § 58 Abs. 2 S. 2 RVG wäre die Rechtslage eindeutig. Danach gilt Folgendes: Ist "eine Gebühr, für die kein Anspruch gegen die Staatskasse besteht“ – hier also die Geschäftsgebühr – "auf eine Gebühr anzurechnen, für die ein Anspruch gegen die Staatskasse besteht," – also die Verfahrensgebühr – "so vermindert sich der Anspruch gegen die Staatskasse nur insoweit, als der Rechtsanwalt durch eine Zahlung auf die anzurechnende Gebühr und den Anspruch auf die ohne Anrechnung ermittelte andere Gebühr insgesamt mehr als den sich aus § 15a Absatz 1 ergebenden Gesamtbetrag erhalten würde." "
Abzurechnen war danach wie folgt:
1. |
Verfahrensgebühr, Nr. 3102 VV |
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300,00 EUR |
2. |
gem. Vorbem. 3 Abs. 4 VV |
150,00 EUR |
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anzurechnende Geschäftsgebühr |
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davon nach § 58 Abs. 2 S. 2 RVG |
– 75,00 EUR |
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anrechnungsfrei |
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(300,00 EUR – 225,00 EUR) |
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verbleiben |
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– 75,00 EUR |
3. |
Terminsgebühr, Nr. 3106 VV |
|
280,00 EUR |
4. |
Einigungsgebühr, Nr. 1006 VV |
|
300,00 EUR |
5. |
Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV |
|
20,00 EUR |
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Zwischensumme |
825,00 EUR |
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6. |
19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV |
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156,75 EUR |
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Gesamt |
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981,75 EUR |
Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen
AGS 2/2021, S. 76 - 77