§ 48 Abs. 6 RVG
Leitsatz
Eine Erstreckung nach § 48 Abs. 6 S. 3 RVG kann auch noch nachträglich beantragt und ausgesprochen werden.
LG Leipzig, Beschl. v. 19.1.2021 – 13 Qs 8/21
I. Sachverhalt
Beim AG waren gegen den Angeklagten (zunächst) zwei Verfahren anhängig. In dem Verfahren 108 Js 36754/19 hatte die Staatsanwaltschaft am 28.8.2019 Anklage zum AG erhoben. Im Rahmen der Anklageerhebung hatte die Staatsanwaltschaft beantragt, dem Angeklagten den Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger beizuordnen. Dieser hatte sich in dem Verfahren als Wahlverteidiger angezeigt, aber keinen Beiordnungsantrag gestellt.
Unter dem AZ 950 Js 55313/19 hatte die Staatsanwaltschaft am 29.10.2019 eine weitere Anklage gegen den Angeklagten erhoben. Im Rubrum war der Rechtsanwalt als (Wahl-)Verteidiger angegeben. Dieser hatte im Ermittlungsverfahren angezeigt, dass er die Verteidigung des Angeklagten übernommen habe. Die Staatsanwaltschaft hat bei Anklagerhebung beantragt, dieses Verfahren mit dem Verfahren 108 Js 36754/19 zu verbinden. Ein Antrag hinsichtlich einer möglichen Beiordnung als Pflichtverteidiger ist nicht erfolgt. Diese Anklage ging am 4.11.2019 beim AG ein.
Bereits am 6.11.2019 bestellte das AG den Rechtsanwalt gem. § 140 Abs. 2 StPO als Verteidiger und ordnete die Zustellung der Anklage an den Angeklagten an, wobei u.a. mitgeteilt wurde, dass das Gericht beabsichtige, das Verfahren mit dem ebenfalls anhängigen Verfahren 108 Js 36754/19 zu verbinden und sodann beide Verfahren zum bereits anberaumten Termin am 12.12.2019 zu verhandeln.
Durch Beschl. v. 21.11.2019 wurden die beiden Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden, wobei das Verfahren 108 Js 36754/19 führte. Im Rahmen der am 12.12.2019 durchgeführten Hauptverhandlung wurde gegen den Angeklagten wegen des Vorwurfes aus der Anklage 108 Js 36754/19 eine Einzelstrafe von einem Jahr und neun Monaten ausgeworfen. Hinsichtlich des Vorwurfs aus der Anklage des hinzuverbundenen Verfahren 950 Js 55313/19 wurde eine Einzelstrafe von vier Monaten festgesetzt.
Mit Schriftsatz vom 11.11.2020 hat der Rechtsanwalt beantragt, die im Verfahren 950 Js 55313/19 vorgenommene Beiordnung als Pflichtverteidiger auch auf das Verfahren 108 Js 36754/19 zu erstrecken. Diesen Antrag hat das AG abgelehnt. Dagegen hat der Rechtsanwalt Beschwerde eingelegt, die beim LG Erfolg hatte.
II. Erstreckung nach Abschluss des Verfahrens Ausnahme
Das LG hat die Beiordnung als Pflichtverteidiger auch auf das Verfahren 108 Js 36754/19 erstreckt. Zwar sei dem Amtsgericht durchaus recht zu geben, dass die Erstreckung nach Abschluss des Verfahrens nicht nahe liegt, da es sowohl dem Wunsch eines Angeschuldigten als auch des Verteidigers entsprechen könne, dass die Verteidigung im Rahmen eines Wahlmandats ausgeübt wird. Insoweit werde es regelmäßig dem Verteidiger obliegen müssen, einen entsprechenden Beiordnungsantrag zu stellen, da eine nachträgliche Erstreckung jedenfalls kein Regelfall darstellen könne (vgl. Burhoff, in: Gerold/Schmidt, RVG, 24. Aufl., 2019, § 48 Rn 207). Dabei sei grds. davon auszugehen, dass die Erstreckung auszusprechen sei, wenn eine Beiordnung oder Bestellung unmittelbar bevorgestanden hätte, falls die Verbindung unterblieben wäre (vgl. u.a. LG Düsseldorf StraFo 2012, 117 m.w.N.). Hier habe der Verteidiger gerade in dem Verfahren 108 Js 36754/19 trotz nochmaliger Verteidigungsanzeige an das Gericht bzw. gestelltem Antrag auf Akteneinsicht keinen Beiordnungsantrag gestellt. Insoweit wäre – so das LG – eine Erstreckung wohl nicht nahe liegend.
III. Hier Ausnahme von der Ausnahme
Allerdings könne in der vorliegenden Konstellation dem Rechtsanwalt die Erstreckung nicht versagt werden, da das AG widersprüchlich vorgegangen sei. Das AG habe mit Verfügung vom 6.11.2019 in dem Verfahren 950 Js 55313/19 den Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger beigeordnet, wobei dem AG schon nach der Anklageschrift bewusst gewesen sein müsse, dass dieser den Angeklagten auch in diesem Verfahren als (Wahl-)Verteidiger vertrete. Eine Notwendigkeit, den Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger für dieses Verfahren beizuordnen, habe nach der Argumentation des AG nicht bestanden. Insbesondere wäre in diesem Verfahren die Beiordnung eines Pflichtverteidigers in weitaus geringerem Umfang als in dem Verfahren 108 Js 36754/19 geboten gewesen, was sich insbesondere auch in den unterschiedlichen Einzelstrafen hinsichtlich der jeweiligen Anklagevorwürfe zeige. Aufgrund dieser aus Sicht der Kammer widersprüchlichen Herangehensweise bzw. Sachbehandlung könne die Kammer kein solches Eigenverschulden des Beschwerdeführers erkennen, dass er nicht auch in dem Verfahren 108 Js 36754/19 frühzeitig einen Erstreckungs- und/oder Beiordnungsantrag gestellt hat. Eine solche Erstreckung könne auch noch nachträglich beantragt und ausgesprochen werden (vgl. Gerold/Schmidt/Burhoff, a.a.O., § 48 Rn 209 m.w.N.). Zumindest im Rahmen dieser Konstellation könne die Kammer auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes, dass Erstreckungen nur in Ausnahmefällen möglich sein sollen, den Antrag des Rechtsanwalts noch als zulässig und begründet erachten.
IV. Bedeutung für die Praxis
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