§§ 33 Abs. 3 S. 1, 55, 56 Abs. 2 S. 1 RVG
Leitsatz
Für die Verwirkung des Erinnerungsrechts des im Rahmen der Prozesskostenhilfe beigeordneten Rechtsanwalts gegen den Vergütungsfestsetzungsbeschluss fehlt es regelmäßig an einem Umstandsmoment.
LSG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 20.11.2020 – L 5 SF 187/19 B E
I. Sachverhalt
Das SG Schleswig hatte dem Kläger PKH unter Beiordnung seiner Prozessbevollmächtigten bewilligt. Nach Beendigung der Instanz hat die Rechtsanwältin die Festsetzung der ihr aus der Staatskasse zustehenden Vergütung beantragt. Der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle (UdG) des SG Schleswig hat die Vergütung durch Beschl. v. 31.1.2018 auf 523,60 EUR festgesetzt und den weitergehenden Antrag der Rechtsanwältin zurückgewiesen. Unter dem 14.6.2019 hat die Rechtsanwältin Erinnerung erhoben und die Festsetzung der Vergütung in der ursprünglich beantragten i.H.v. 1.261,40 EUR, zumindest aber i.H.v. 815 EUR zzgl. Umsatzsteuer verlangt. Durch Beschl. v. 22.11.2019 hat das SG – ob durch den UdG oder den Richter, wird in den Beschlussgründen nicht mitgeteilt – den angegriffenen Festsetzungsbeschluss vom 31.1.2018 geändert und die aus der Staatskasse zu zahlende Vergütung auf nunmehr 880,60 EUR festgesetzt.
Gegen diesen Beschluss hat nunmehr der Vertreter der Staatskasse am 4.12.2019 Beschwerde eingelegt. Diese Beschwerde hat er damit begründet, die Rechtsanwältin habe die Erinnerung knapp eineinhalb Jahre nach Erlass des Festsetzungsbeschlusses vom 31.1.2018 zu spät erhoben. Ihr Erinnerungsrecht sei deshalb verwirkt.
II. Keine Verwirkung des Erinnerungsrechts
Das Schleswig-Holsteinische LSG hat sich der Auffassung der Vorinstanz angeschlossen, das Erinnerungsrecht der beigeordneten Rechtsanwältin sei nicht verwirkt.
1. Zeit- und Umstandsmoment
Das LSG hat darauf hingewiesen, dass für eine Verwirkung des Erinnerungsrechts gem. § 56 RVG sowohl das sog. Zeitmoment als auch das sog. Umstandsmoment vorliegen müssten. Folglich genüge der Ablauf eines langen Zeitraums für sich allein genommen für die Verwirkung nicht. Vielmehr müssten zur Nichtausübung des Erinnerungsrechts über einen längeren Zeitraum stets weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts nach Treu und Glauben dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen lassen müssten. Nach Auffassung des Schleswig-Holsteinischen LSG ist Voraussetzung hierfür zunächst, dass der Verpflichtete aufgrund eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage).
2. Verhalten des Berechtigten
Das LSG hat darauf hingewiesen, dass ein solches Verwirkungsverhalten zwar regelmäßig in der vorbehaltlosen Zahlung der Vergütung durch die Staatskasse auf einen dem Festsetzungsantrag des beigeordneten Rechtsanwalts entsprechenden Festsetzungsbeschlusses gesehen werden könne. Es liege jedoch regelmäßig nicht in der bloßen (passiven) Unterlassung der zeitnahen Ausübung des Erinnerungsrechts durch den beigeordneten Rechtsanwalt bei lediglich gekürzt festgesetztem Vergütungsanspruch. Folglich habe auch im vorliegenden Fall die Staatskasse in Anwendung dieser Grundsätze allein durch den bloßen Zeitablauf keine Vertrauensgrundlage bilden können. Besonderheiten des Falles, die hier eine vom Regelfall abweichende Bewertung hätten rechtfertigen können, lagen hier nach Auffassung des LSG nicht vor.
3. Entscheidung des Bay. LSG steht nicht entgegen
Die Staatskasse hat sich nach Auffassung des Schleswig-Holsteinischen LSG auch nicht auf die Entscheidung des Bay. LSG vom 4.10.2012 (AGS 2012, 584 = NJW-Spezial 2021, 699) berufen können. Das Bay. LSG ha sich nämlich nur mit der Verwirkung des Erinnerungsrechts der Staatskasse befasst, das spätestens nach einem Jahr nach dem Wirksamwerden der Festsetzungsentscheidung verwirkt sei, sofern nicht besonders missbilligenswerte Umstände in der Sphäre des Rechtsanwalts vorliegen würden. Ob dies in gleicher Weise für das Erinnerungsrecht des Rechtsanwalts gilt, hatte das Bay. LSG ausdrücklich offengelassen.
III. Bedeutung für die Praxis
Die Entscheidung des Schleswig-Holsteinischen LSG gibt Anlass, auf einige Probleme des Verfahrens auf Festsetzung der PKH-/VKH-Anwaltsvergütung hinzuweisen.
1. Rechtsbehelfe bei Festsetzung der PKH/VKH-Anwaltsvergütung
a) Erinnerung
Es entspricht zunächst einmal allgemeiner Auffassung in Rspr. und Lit., dass die Erinnerung gegen die Festsetzung der PKH- oder VKH-Anwaltsvergütung nach § 55 RVG unbefristet ist (s. OLG Brandenburg RVGreport 2010, 218 [Hansens] = AGS 2011, 280; OLG Frankfurt RVGreport 2007, 100 [Ders.]; OLG Düsseldorf RVGreport 2016, 218 [Ders.], LSG Sachsen-Anhalt RVGreport 2018, 15 [Ders.]; Tür. LSG RVGreport 2019, 96 [Ders.]; Mayer/Kroiß/Pukall, RVG, 6. Aufl., § 56 Rn 10; Gerold/Schmidt/Müller-Rabe, RVG, 24. Aufl., § 56 RVG Rn 8). Anderer Auffassung ist lediglich das OLG Koblenz (RVGreport 2006, 60 [Hansens]).
b) Beschwerde
Demgegenüber verweist § 56 Abs. 2 S. 1 HS 2 RVG für das...