§ 4 Abs. 2 S. 2 InsVV; Nr. 9002 GKG KV
Leitsatz
- Auch nach dem 1.1.2021 sind Zustellauslagen bereits ab der 1. Zustellung zu gewähren, wenn die Bagatellgrenze von zehn Zustellungen überschritten ist.
- Dem Wortlaut der Regelung § 4 Abs. 2 S. 2 InsVV, Nr. 9002 GKG KV ist nicht zu entnehmen, dass grundsätzlich Auslagenpauschalen für die ersten zehn Zustellungen unterhoben bleiben sollen.
- Werden zehn Zustellungen überschritten, ist von einem zu honorierenden Mehraufwand auszugehen, der den Gesamtansatz der Zustellauslagen rechtfertigt.
AG Stade, Beschl. v. 10.1.2022 – 73 IK 106/21
I. Sachverhalt
Im Rahmen eines Verbraucherinsolvenzverfahrens wurde die Vergütung des Verbraucherinsolvenzverwalters durch das AG festgesetzt. Die vom Insolvenzgericht auf den Verwalter delegierten Zustellungen wurden festgesetzt, dabei aber im Rahmen der Bestimmung Nr. 9002 GKG KV die ersten 10 Zustellungen aberkannt. Die hiergegen eingelegte Erinnerung hatte dann vor dem ersuchten Richter Erfolg. Dieser erkannte auch die ersten 10 Zustellungen ebenfalls zu.
II. Wortlaut § 4 Abs. 2 S. 2 InsVV, Nr. 9002 GKG KV
Dem Wortlaut der Regelung § 4 Abs. 2 S. 2 InsVV, GKG KV 9002 ist nicht zu entnehmen, dass grds. Auslagenpauschalen für die ersten 10 Zustellungen unerhoben bleiben sollen.
Nach dem Wortlaut des Gesetzes sollen, so das AG Stade, Zustellungen nur erhoben werden, wenn mehr als 10 Zustellungen angefallen sind. Umgekehrt sei dann aber mit dieser "Ansatzgrenze" nicht geregelt, dass die ersten 10 Zustellungen – sofern mehr als 10 angefallen sind – gar nicht erhoben werden sollen.
III. Volle Erstattung, wenn Aufwand erheblich war
Wird die Bagatellgrenze von 10 Zustellungen überschritten, so sei – auch unter Heranziehung der Entwicklung der Rspr. des BGH zur Auslagenfrage (z.B. BGH, Beschl. v. 21.12.2006 – IX ZB 129/05, RVGreport 2007, 320) – davon auszugehen, dass ein zu verzeichnender Mehraufwand von mehr als 5 % festzustellen sei. Im Zuschlagswesen ist bei Überschreiten dieser Grenze anerkannt, dass der gesamte und nicht nur der die Bagatellgrenze überschreitende Mehraufwand zu berücksichtigen sei. Dies gelte – so das AG Stade – auch für die Zustellauslagen.
IV. Keine Änderungen durch die Reform
Das AG Stade sieht auch in der Bezugnahme auf Nr. 9002 GKG KV kein Novum, sondern geht vielmehr davon aus, dass der Gesetzgeber mit der Neufassung des § 4 Abs. 2 InsVV nur geltendes Recht und aufgestellte Grundsätze in das neue Recht überführen wollte. Folglich gebe es keinen Raum für die Aberkennung der ersten 10 Zustellungen betragsmäßig dann, wenn eine Bagatellgrenze überschritten wurde.
V. Bedeutung für die Praxis
Die Frage der Erhebung von Zustellauslagen wird seit 1.1.2021 intensiv diskutiert. Das AG Stade schließt sich damit der Meinung des AG Karlsruhe vom 8.10.2021 (30 IK 31/21) an und sieht keine Veranlassung, aus Nr. 9002 GKG KV einen generellen Abzug bei den Zustellauslagen vorzunehmen. Vielmehr stelle die zahlenmäßige Schwelle von 10 Zustellungen eine Größenordnung dar, die – wie bei den Zuschlägen und der dort angesetzten 5 % Schwelle auch – die Grenze zwischen einem geltend zu machenden Zuschlag wegen Mehraufwandes oder eines hinzunehmenden Bagatellcharakters bilde. Sei dieser Schwellenwert überschritten, sei folglich insgesamt der Mehraufwand zu berücksichtigen.
Nach der Auffassung des BGH – im Zuschlagswesen – ist anhand einer Gesamtbetrachtung bezogen auf das konkrete Verfahren ein angemessener Gesamtzuschlag oder Gesamtabschlag zu bestimmen, welcher den Mehraufwand bzw. Minderaufwand des Verwalters in dem konkreten Verfahren wirtschaftlich ausgleichen soll (BGH, Beschl. v. 20.5.2010 – IX ZB 11/07). Grds. wird dabei aber von einer sog. Mischtheorie (auch Mischkalkulation) ausgegangen. Nach allgemeiner Anschauung muss diese Vergütung damit auch nicht stets kostendeckend sein. Vielmehr nimmt man an, dass im Sinne einer sogenannten Querfinanzierung die Vergütung im Einzelfall dann nicht kostendeckend oder auf Gewinn ausgerichtet sein muss, wenn in der Gesamtheit aller bearbeiteter Verfahren insgesamt ein auskömmliches Einkommen verbleibt. Dem pauschalierten Vergütungssystem der InsVV wohnt nämlich eine systemimmanente Querfinanzierung inne, indem ein Verwalter für die Abwicklung eines Verfahrens eine pauschalierte, betragsbezogene Vergütung erhält, die in dem einen Anwendungsfall dem tatsächlichen Aufwand im konkreten Verfahren nahe kommt, ihn in einem anderen Fall deutlich überschreitet und in anderen Fällen auch deutlich unterschreitet. Nicht gedeckte oder im Einzelfall damit unangemessene Kosten bei massearmen Verfahren können damit durch massereiche Verfahren kompensiert werden. Die massearmen Verfahren müssen also im Durchschnitt kostendeckend vergütet werden. Allgemein wird zudem angenommen, dass ein "Mehraufwand" auch erst ab Überschreiten eines gewissen Toleranzspielraums angesetzt werden kann. Dies wird bei einem messbaren Mehraufwand von 5 % angenommen. Darunter liegende Zuschläge sind im Rahmen der Mischkalkulation berücksichtigt und mit der Regelvergütung abgedeckt.
Diese Grundsätze zieht das AG Stade – wie auch das AG Karlsruhe – analog für das Zustellungswesen heran, indem es eine Bagatellgrenze von 10 Zustellunge...