§ 166 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 S. 1 ZPO
Leitsatz
Ausnahmsweise kann auch nach Beendigung des Hauptsacheverfahrens noch Prozesskostenhilfe rückwirkend bewilligt werden, wenn die bedürftige Partei vorher alles für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe Erforderliche getan hat. Bei der Entscheidung ist dabei auf den Zeitpunkt der Bewilligungs- und Entscheidungsreife abzustellen.
OVG Saarlouis, Beschl. v. 15.11.2023 – 2 D 90/23
I. Sachverhalt
Der Kläger hat für das erstinstanzlichen Verfahren beim VG Prozesskostenhilfe (PKH) beantragt. Er hat seinen Berufsausbildungsvertrag von April 2021 vorgelegt, hiernach erhielt er im ersten Ausbildungsjahr eine Vergütung i.H.v. 890,00 EUR brutto. Weiter hat er mit seinem PKH-Gesuch am 1.9.2021 einen Mietvertrag über eine Wohnung (1 1/2 Zimmer, Küche, Bad) vorgelegt, der einen monatlichen Mietzins i.H.v. 280,00 EUR festlegte. In diesem Vertrag war weiter vorgesehen, dass auf die Betriebskosten (Nebenkosten) eine monatliche Vorauszahlung i.H.v. damals 100,00 EUR zu zahlen war. Das VG hat mit Verfügung v. 7.2.2023 von dem Kläger die Vorlage von Lohnnachweisen im Einzelnen verlangt. Der Prozessbevollmächtigte hat behauptet, dass er die betreffende Verfügung nicht erhalten habe.
Das VG hat mit Beschl. v. 14.6.2023 (6 K 661/21) den Antrag auf Bewilligung von PKH aus formellen Gründen zurückgewiesen mit der Begründung, der Kläger habe entgegen der gerichtlichen Verfügung v. 7.2.2023 sowie trotz Erinnerung und Belehrung keine Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse einschließlich entsprechender Belege (§ 166 VwGO, § 117 Abs. 2 ZPO) vorgelegt.
Das Hauptsacheverfahren, für das PKH begehrt wurde, wurde durch gerichtlichen Vergleich v. 19.7.2023 beendet.
Das OVG hat mit Beschl. v. 15.11.2023 der Beschwerde des Klägers gegen den Beschl. des VG Saarlouis v. 14.6.2023 (6 K 661/21) entsprochen und unter Abänderung dieses Beschlusses dem Kläger für das erstinstanzliche Verfahren PKH ohne Ratenzahlung bewilligt.
II. Voraussetzungen zur Bewilligung von Prozesskostenhilfe
1. Formelle Voraussetzungen
Bemittelte und unbemittelte Parteien sollen bei der Ausübung des rechtlichen Gehörs und des Zugangs zu den Gerichten gleichgestellt werden (Lissner/Dietrich/Schmidt, Beratungshilfe mit Prozess- und Verfahrenskostenhilfe, 4. Aufl., 2022, Rn 392c; Musielak/Voit/Fischer, ZPO, 20. Aufl., 2023, § 114 Rn 1). Dies sicherzustellen, ist die Aufgabe der PKH. Die Gewährung von PKH hängt dabei von subjektiven, objektiven und verfahrensmäßigen Voraussetzungen ab (Saenger/Kießling, ZPO, 10. Aufl., 2023, § 114 Rn 1).
Vorliegend ist von der ordnungsgemäßen Zuständigkeit des VG auszugehen. Ebenso ist aus der Begründung der Entscheidung des OVG nichts ersichtlich, dass bzgl. der Form des Antrages (vollständiges und unterschriebenes Formular gem. § 117 Abs. 1, 4 ZPO, § 1 PKHFV) Mängel vorliegen. Entsprechende Belege zu den persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen hat der Kläger ordnungsgemäß vorgelegt.
2. Vorliegen der persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen
Gem. § 166 Abs. 1 VwGO, § 114 Abs. 1 S. 1 1 Hs. ZPO erhält eine Partei neben den weiteren zur Gewährung von PKH notwendigen Voraussetzungen, nämlich der zu bejahenden Erfolgsaussicht des zugrundeliegenden Anspruchs sowie dass das Begehren nicht mutwillig erscheinen darf, § 114 Abs. 1 S. 1 2 Hs. ZPO, dann PKH, wenn sie die Kosten der Prozessführung nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann.
Persönlich antragsberechtigt sind in erster Linie die Beteiligten des Verfahrens, wozu der Kläger im vorliegenden Verfahren gem. § 63 VwGO gehört.
Der Kläger als bedürftige Partei hat zur Prozessfinanzierung sein Einkommen einzusetzen, hierzu gehören gem. § 115 Abs. 1 S. 2 ZPO alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert (BeckOK ZPO/Vorwerk/Wolf/Reichling, 51. Ed., Stand: 1.12.2023, § 115 Rn 1). Zu diesen Einkünften zählen die Erwerbseinkünfte von Arbeitnehmern. Unter Erwerbstätigkeit fällt auch die Tätigkeit von Auszubildenden (LAG Köln, Beschl. v. 29.11.2011 – 1 Ta 289/11). Maßgebend ist dabei das Einkommen der bedürftigen Partei selbst, das sie auch tatsächlich erzielt. Der Kläger hat vorliegend seinen Berufsausbildungsvertrag von April 2021 vorgelegt, hiernach erhielt er im ersten Ausbildungsjahr eine monatliche Vergütung i.H.v. 890,00 EUR brutto. Der Vorlage weiterer einzelner Lohnnachweise – wie vom VG von dem Kläger verlangt wurde – bedarf es nicht. Die Vorlage des Berufsausbildungsvertrages, aus dem auch die zahlende monatliche Ausbildungsvergütung hervorgeht, genügt zum Nachweis des erzielten monatlichen Einkommens.
Gem. § 115 Abs. 1 S. 3 Nr. 1b und Nr. 2a ZPO sind von dem ermittelten Einkommen Freibeträge abzusetzen. Zum einen ist der Freibetrag für die Partei selbst gem. § 115 Abs. 1 S. 3 Nr. 2a ZPO abzusetzen. Dieser betrug bis zum 31.12.2023 552,00 EUR (ab 1.1.2024: 619,00 EUR). Der sog. Erwerbstätigkeitsfreibetrag gem. § 115 Abs. 1 S. 3 Nr. 1b ZPO ist auch von einer Ausbildungsvergütung abzusetzen (Lissner/Dietrich/Schmidt, a.a.O., Rn 56; LAG Kö...