Lange galt der Grundsatz, der wohl schon den Rang eines Dogmas hatte, dass der Streitwert einer Forderungsklage gleich dem bezifferten Betrag ist, und zwar unabhängig davon, ob der Kläger Aussicht hat, seinen materiellen Anspruch nach der Titulierung vollstreckungsrechtlich verwirklichen zu können. So hat dann beispielsweise auch das LG Münster noch 1960 entschieden:
"Der Streitwert der Vollstreckungsabwehrklage bemisst sich auch dann nach dem vollstreckbaren Anspruch, wenn die Forderung wegen Vermögenslosigkeit nicht beitreibbar ist und das Interesse des Abwehrklägers sich in der Befreiung von der Verpflichtung zur Leistung des Offenbarungseides erschöpft."
Der BGH hat diese Rspr. bestätigt.
Diese Bewertung wurde jedoch zunehmend aufgegeben, nachdem der BGH die zunächst vom RG übernommene rein rechtliche Betrachtungsweise im Streitwertrecht zugunsten einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise aufgegeben hatte. So wurden beispielsweise Miterbenstreitigkeiten abweichend von der Rspr. des RG auch bei Herausgabe- und Auseinandersetzungsansprüchen unter Miterben nicht mehr nach § 6 ZPO, sondern nach § 3 ZPO bewertet und wurde allein auf das wirtschaftliche Interesse des Miterben-Klägers abgestellt, also unter Abzug des diesem zustehenden Erb- oder Pflichtteilsanspruchs. Die starre Regelung des § 6 ZPO wurde durch abschwächende Auslegung dahin entschärft, dass diese Vorschrift unmittelbar nur für die Ermittlung des Zuständigkeits- und Rechtsmittelwertes gelte, für den Gebührenstreit dagegen lediglich entsprechend. Hiervon ausgehend ist bewertet worden, wenn gegenüber einem Herausgabeanspruch nur ein geringwertiges Zurückbehaltungsrecht geltend gemacht wird. Die Klage auf Löschung einer Hypothek ist nicht nach dem Nennbetrag, sondern nach der Höhe der Valutierung bewertet worden; ebenso OLG Köln für die Klage auf Bewilligung einer Sicherungshypothek. Die Klage auf Freistellung von der Inanspruchnahme aus einer Grundschuld ist nicht nach dem Nominalwert, sondern nach dem wirklichen Wert der Forderung beziffert worden. Bei der Herausgabe- oder Auflassungsklage ist der Verkehrswert unter Abzug der dinglichen Belastungen festgesetzt worden. Für die Klage auf Abtretung eines wertlosen Grundpfandrechts hat das OLG Köln nur einen Erinnerungswert angesetzt, ebenso das LG Bayreuth für die Klage auf Löschung eines Widerspruchs gegen den eingetragenen Eigentümer, wenn der Grundbucheintragung nur noch formale Bedeutung zukommt. Bei der Bewertung eines Prozessvergleichs, in den "faule Forderungen" einbezogen werden, ist nicht der volle Forderungsbetrag hinzugerechnet, sondern geschätzt worden, wie weit überhaupt mit einer Befriedigung zu rechnen sei.
Diesen Beispielen ließen sich zahlreiche weitere anfügen. Sie genügen jedoch als Beleg für die Feststellung, dass der Trend zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise unumkehrbar ist. Es stellt sich jedoch von Fall zu Fall das Problem der Grenze. Das KG hat vorstehend eine Klage über 135.122,00 EUR mit 300,00 EUR bewertet. Das sind 0,22 % der Forderung! Eine solche Rspr. ignoriert die Belange des Prozessbevollmächtigten, der schließlich nach dem vollen Betrag von 135.122,00 EUR haftet. Wenn der Streitwert herabgesetzt wird, muss das interessengerecht sein. Schließlich ist es Sache des Klägers oder Gläubigers, sich zu überlegen, ob er eine aussichtslose Forderung in voller Höhe einklagen will.
Der Anwalt wiederum sollte seinen Auftraggeber in einschlägigen Fällen auf die Rechtslage hinweisen und vorsorglich eine Vergütungsvereinbarung mit ihm eingehen. Sonst geht er, wie im Ausgangsfall, das Risiko ein, sich mit der Rechtslage einer Forderung über mehr als 100.000,00 EUR auseinanderzusetzen und dann nach einem Streitwert von 300,00 EUR, der ihn bindet (§ 32 Abs. 1 RVG), abrechnen zu müssen; im Ausgangsfall also Gebühren in Höhe von 62,50 EUR netto zu erhalten.
Abschließend stellt sich die Frage, wie das LG Stuttgart bei einem Streitwert von 300,00 EUR seine Zuständigkeit bejahen konnte.
Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider, Much
Hinweis der Schriftleitung
In Familiensachen findet sich seit dem 1.9.2009 eine anderslautende Bewertungsregel. "Ist Gegenstand des Verfahrens eine bezifferte Geldforderung, bemisst sich der Verfahrenswert nach deren Höhe, soweit nichts anderes bestimmt ist." Ein Abschlag wegen Uneinbringlichkeit oder Wertlosigkeit ist danach in Familiensachen nicht möglich.