§ 141 StPO
Leitsatz
Liegen die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung vor und wird der Beiordnungsantrag noch vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens gestellt, ist es ausnahmsweise möglich und geboten, rückwirkend auf den Zeitpunkt der Antragstellung einen Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn der Antrag vor Verfahrensabschluss aus justizinternen Gründen nicht verbeschieden wurde.
OLG Stuttgart, Beschl. v. 15.12.2022 – 4 Ws 529/22
I. Sachverhalt
Der (ehemalige) Angeklagte ist vom AG wegen versuchten Diebstahls verurteilt worden. Dagegen haben sowohl die Staatsanwaltschaft als auch der Verteidiger des Angeklagten Berufung eingelegt. Der Verteidiger hat die Berufungskammer darauf hingewiesen, dass sich der Angeklagte nach einer rechtskräftigen Verurteilung zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe in Haft befand und zugleich seine Beiordnung als Pflichtverteidiger beantragt. Daraufhin regte der Vorsitzende der Berufungskammer bei der Staatsanwaltschaft die Einstellung des Verfahrens nach § 154 Abs. 2 StPO an. Die Staatsanwaltschaft stellte den Einstellungsantrag. Zu dem Hinweis der beabsichtigten Verfahrenseinstellung nahm der Verteidiger dahin Stellung, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers dennoch unverzüglich zu erfolgen habe. Das LG hat das Verfahren eingestellt. Die Beiordnung des Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger lehnte es nach § 141 Abs. 2 S. 3 StPO ab, weil von Anfang an beabsichtigt gewesen sei, das Verfahren einzustellen. Die Voraussetzungen einer rückwirkenden Pflichtverteidigerbestellung lägen nicht vor. Dagegen hat der Angeklagte sofortige Beschwerde eingelegt, die Erfolg hatte.
II. Voraussetzungen haben vorgelegen
Nach Auffassung des OLG hat die sofortige Beschwerde in der Sache Erfolg. Das OLG bejaht die Voraussetzungen für eine Pflichtverteidigerbestellung gem. § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO. Denn der Angeklagte habe sich seit März 2022 in anderer Sache in Strafhaft befunden. Ein Absehen von der Pflichtverteidigerbestellung gem. § 141 Abs. 2 S. 3 StPO sei entgegen der Auffassung des LG nicht möglich gewesen. Nach dieser Vorschrift könne eine Bestellung unterbleiben, wenn beabsichtigt sei, das Verfahren alsbald einzustellen und keine anderen Untersuchungshandlungen als die Einholung von Registerauskünften oder die Beiziehung von Urteilen oder Akten vorgenommen werden soll. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift beschränke sich aber auf Fälle der Bestellung eines Pflichtverteidigers von Amts wegen (§ 141 Abs. 2 StPO). Auf Fälle einer Bestellung auf Antrag des Beschuldigten gem. § 141 Abs. 1 StPO sei sie nicht – auch nicht entsprechend – anwendbar. Gegen eine unmittelbare Anwendung sprechen sowohl der Wortlaut als auch die systematische Stellung innerhalb des § 141 StPO. Eine entsprechende Anwendung komme mangels einer Regelungslücke nicht in Betracht (BeckOK StPO/Krawczyk, § 141 Rn 23 m.w.N.).
III. Ausnahmsweise rückwirkende Bestellung
Obwohl zum Zeitpunkt der Antragstellung die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung vorlagen, habe das LG den Angeklagten nicht unverzüglich (§ 141 Abs. 1 S. 1 StPO) den Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger beigeordnet, sondern bis November 2022 zugewartet, um dann das Verfahren einzustellen und den Beiordnungsantrag abzulehnen. In Fällen, in denen wie vorliegend die sachlichen Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers vorlagen und der Antrag auf Bestellung noch vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens gestellt, aber aus justizinternen Gründen nicht verbeschieden wurde, sei es nach Auffassung des Senats ausnahmsweise möglich und geboten, rückwirkend auf den Zeitpunkt der Antragstellung einen Pflichtverteidiger zu bestellen.
IV. Überwiegende obergerichtliche Rechtsprechung
Die überwiegende obergerichtliche Rspr. habe eine rückwirkende Beiordnung bislang mit dem Argument ausgeschlossen, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers diene der ordnungsgemäßen Verteidigung eines Angeklagten sowie der Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs. Sie erfolge nicht im Kosteninteresse eines Angeklagten oder im Interesse eines Verteidigers an einem Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse. Das Ziel einer effizienten Verteidigung könne nachträglich nicht mehr erlangt werden. Die rückwirkende Bestellung führe demnach nicht zu einem Mehr an Rechtsschutz des Angeklagten, sondern lediglich zur Schaffung eines Kostenanspruchs des Rechtsanwalts gegenüber der Staatskasse. Auch aus der Regelung des Art. 4 Abs. 1 der RL 2016/1919/EU (PKH-Richtlinie) folge nichts anderes, denn die Richtlinie sehe nicht vor, den Betroffenen in jedem Fall von Kosten freizuhalten. Der Anspruch auf Prozesskostenhilfe (PKH) bestehe gem. Art. 4 Abs. 1 PKH-Richtlinie nur, wenn die Bereitstellung finanzieller Mittel im Interesse der Rechtspflege erforderlich sei. Ein solches Erfordernis bestehe aber in rechtskräftig abgeschlossenen Fällen nicht mehr (OLG Braunschweig, Beschl. v. 2.3.2021 – 1 Ws 12/2; OLG Brandenburg, Beschl. v. 9.3.2020 – 1 Ws 19/20, NStZ 2020, 625; KG, Beschl. v. 9.4.2020 – 2 Ws 307/20; OLG Hamburg Beschl. v. 16.9.2020 – 2 Ws 112/20; OLG Bremen, Beschl. v. 23. 9.2020, NStZ 2021, 252 [offengelassen für de...