Nr. 4124 VV RVG
Leitsatz
Die Verfahrensgebühr gem. Nr. 4124 VV entsteht grundsätzlich nicht, wenn die Staatsanwaltschaft ihre Berufung vor deren Begründung wieder zurückgenommen hat.
OLG Stuttgart, Beschl. v. 22.2.2021 – 2 Ws 246/20
I. Sachverhalt
Der Rechtsanwalt war Pflichtverteidiger der Angeklagten. Der ist vom AG am 16.3.2020 verurteilt worden. Gegen das Urteil hat die Staatsanwaltschaft Stuttgart am 18.3.2020 zuungunsten des Angeklagten Berufung eingelegt, ohne diese zu begründen. Nach Zustellung des schriftlichen Urteils nahm die Staatsanwaltschaft ihre Berufung mit Schreiben vom 8.5.2020 zurück. Das AG hat der Staatskasse die Kosten der Berufung und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen der Staatskasse auferlegt. Den Antrag des Verteidigers, seine Pflichtverteidigervergütung für das Berufungsverfahren festzusetzen, hat der Rechtspfleger des AG zurückgewiesen. Auf die Erinnerung des Verteidigers hat das AG mit Beschluss die Entscheidung aufgehoben und die Verfahrensgebühr für das Berufungsverfahren nach Nr. 4124 VV nebst Auslagenpauschale nach Nr. 7002 VV und Mehrwertsteuer festgesetzt. Die dagegen gerichtete Beschwerde der Staatskasse hat die Strafkammer als unbegründet verworfen. Die zugelassene weitere Beschwerde der Staatsanwaltschaft hatte Erfolg.
II. Prüfung der Notwendigkeit
Nach Auffassung des OLG steht dem Pflichtverteidiger für seine vorliegende im Berufungsverfahren keine Vergütung aus der Staatskasse zu. Erstattungsfähig sei eine Gebühr auch im Verfahren nach § 55 RVG nur dann, wenn die erbrachte Tätigkeit des Verteidigers zur Rechtsverfolgung notwendig gewesen sei. Eine Prüfung der Notwendigkeit sei gem. § 46 RVG ausdrücklich nur für Auslagen und sonstige Aufwendungen des Pflichtverteidigers vorgesehen. Aus dem Rechtsgedanken des § 52 Abs. 1 S. 2 RVG folge jedoch, dass ein Pflichtverteidiger nicht besser gestellt werden dürfe, als er stünde, wenn ihn der Angeklagte als Wahlverteidiger beauftragt hätte. Denn in diesem Falle würde die Staatskasse bei einer Entscheidung nach § 467 Abs. 1 StPO oder § 473 Abs. 2 StPO nur die durch die notwendige Verteidigung entstandenen gesetzlichen Wahlverteidigergebühren ersetzen (§ 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO i.V.m. § 91 Abs. 2 ZPO). Zudem begründe die Bestellung eines Pflichtverteidigers ein öffentlich-rechtliches Schuldverhältnis. Im Interesse der Allgemeinheit folge hieraus die Verpflichtung, keine Gebühren durch unnötiges Verteidigerverhalten zu verursachen. Letztlich entspreche es auch dem Kosteninteresse des Angeklagten, der die von der Staatskasse verauslagten Kosten der Pflichtverteidigung grds. in voller Höhe zu tragen hab, die Kosten nur auf das notwendige Verteidigerhandeln zu beschränken (§§ 465 Abs. 1 S. 1, 464a Abs. 1 S. 1 StPO, § 29 Nr. 1 GKG, Nr. 9007 KV GKG der Anlage I zu § 3 Abs. 2 GKG).
III. Streitstand in Rechtsprechung und Literatur
In Rspr. und Lit. sei umstritten, ob die Tätigkeit eines Verteidigers im Berufungsrechtszug notwendig und damit die Gebühr Nr. 4124 VV verdient sei, wenn die Staatsanwaltschaft ihr zuungunsten des Angeklagten eingelegtes Rechtsmittel noch vor dessen Begründung zurücknehme. In der Lit. werde einhellig die Meinung vertreten, dass auch im Falle einer späteren Rücknahme der Berufung durch die Staatsanwaltschaft jedes Tätigwerden des Verteidigers die Gebühr nach Nr. 4124 VV entstehen lässt (vgl. Burhoff, in: Gerold/Schmidt, RVG-Kommentar, 24. Aufl., 2019, Einleitung zu Nr. 4124, 4125 Rn 7, 8 m.w.N.; Hartmann/Toussaint/Schmitt, Kostenrecht, 50. Aufl., 2020, RVG VV 4124–4129 Rn 10). Für das Revisionsverfahren habe der weit überwiegende Teil der Rspr. bereits entschieden, dass ein anwaltliches Handeln vor Eingang der gegnerischen Begründungsschrift prozessual nicht notwendig und deshalb nicht nach Nr. 4130 VV zu vergüten sei (vgl. die Nachweise bei Burhoff, a.a.O.). Gleiches müsse – so das OLG – auch für das Berufungsverfahren gelten. Wie im Falle der Revision ist eine prozessuale Notwendigkeit für das Tätigwerden des Verteidigers vor Begründung der zuungunsten des Angeklagten eingelegten Berufung der Staatsanwaltschaft nicht gegeben und ein Erstattungsanspruch gegen die Staatskasse folglich nicht entstanden.
IV. Auffassung des OLG
Die dagegen vorgebrachten Argumente können das OLG nicht zu überzeugen. Der Angeklagte möge ein anzuerkennendes Interesse daran haben, über den weiteren Verfahrensgang bei Berufungseinlegung durch die Staatsanwaltschaft informiert zu werden. Vor Zustellung des Urteils und Begründung der Berufung beschränke sich das Interesse aber auf ein subjektives Beratungsbedürfnis. Objektiv sei eine solche Beratung vor der Begründung des Rechtsmittels weder erforderlich noch sinnvoll. Vor der Rechtsmittelbegründung könne eine Beratung nur über potentielle und hypothetische Angriffsziele des Rechtsmittels erfolgen; eine Verteidigungsstrategie könne allenfalls theoretisch entworfen werden. Erst wenn feststehe, dass die Staatsanwaltschaft das von ihr eingelegte Rechtsmittel nach näherer Prüfung der Erfolgsaussichten überhaupt weiterverfolge und anhand der Rechtsmittelbegründung die Zielrichtung und der Umfang d...